Der Römerbrief Kap. 10 Vers 14-21
Die Juden haben auf die Heilsbotschaft nicht gehört
Nur wer den Namen des Herrn bekennt, wird gerettet. Das Bekenntnis Christi setzt aber die Kenntnis seiner Person und seines Wesens, den Glauben an ihn voraus. Glauben aber kann nur der, der die frohe Botschaft von ihm und seinem Erlösungswerk vernommen hat. Er kann aber nur dann der Botschaft glauben, wenn sie ihm durch zuverlässige Männer gepredigt wird, die ihre göttliche Sendung beweisen können. Wären alle diese Vorbedingungen nicht erfüllt worden, dann hätten sich die Juden entschuldigen können, daß sie den Heilsweg des Glaubens nicht beschritten hatten, dann wäre ihr Widerspruch gegen das Evangelium entschuldbar. Aber die Bedingungen wurden alle erfüllt.
Die Apostel haben sich als Gesandte Gottes ausgewiesen und wahrheitsgemäß die Heilsbotschaft verkündet. Der Prophet Isaias hatte mit Jubel die Boten begrüßt, die einmal über die Berge Palästinas eilen, um die frohe Kunde von der Erlösung aus dem Exil zu melden. Was ist aber diese frohe Kunde im Vergleich zur Botschaft von der Erlösung aus der Knechtschaft der Sünde, von der die Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft doch nur ein Schattenbild war. Mit welchem Jubel hätten die Juden die Apostel als Boten Christi begrüßen und wie begierig ihrer Predigt lauschen müssen! Aber nicht alle glaubten dem Evangelium und leisteten ihm Folge. Schon der Prophet Isaias hatte den Unglauben Israels voraus gesehen und voraus verkündigt: „Herr, wer glaubte unserer Botschaft?“ (53, 1) Er dachte an die Botschaft von der Erlösung durch den Tod und die stellvertretende Genugtuung des Gottesknechtes. Der Glaube kommt vom Hören, das Hören aber durch as Wort Gottes. Die Predigt der Apostel ist das Wort Christi: „Wer euch hört, hört mich, wer euch verwirf, der verwirft mich“ (Luk. 10, 16). Die Ablehnung der Predigt der Apostel bedeutet die Ablehnung Christi selbst.
Daß die Apostel als beglaubigte Sendboten Christi die Frohbotschaft des Heiles durch den Glauben an Christus verkündigt haben, müssen die Juden zugeben. Diese Verkündigung hatte sich ja nicht im Verborgenen vollzogen, nicht in kleinen Kreisen, in geschlossenen Zirkeln, daß die große Öffentlichkeit, auch die jüdische Öffentlichkeit, davon keine Kunde erhielt. Die Apostel traten nicht wie Philosophen oder Sektenstifter auf. Sie waren an die ganze Welt gesandt und hatten die ganze Welt als Wirkungsfeld unter sich geteilt, so daß der Ausspruch des 19. (18.) Psalms auch von diesem Wort gilt: „In die ganze Welt ging ihr Schall und bis an die Grenzen der Erde ihre Worte.“ Auf den Heeresstraßen des weiten Römerreiches zogen die Glaubensboten nach Indien und bis zum fernen Westen. Überall predigten sie zuerst den Juden und boten ihnen vor den Heiden das Heil an. So hatte es auch Paulus stets gehalten. Wie das Hohelied, das die Gestirne von der Schöpfermacht Gottes singen, in allen Landen vernommen wird, so ist auch das Hohelied von Christus, der Sonne der Gerechtigkeit, in alle Lande gedrungen.
Hatten die Juden die Predigt etwa deshalb abgelehnt, weil sie deren Sinn nicht verstanden und darum an der Berufung der Heiden in die Kirche Anstoß nahmen? Auch diese Entschuldigung besteht nicht zu Recht. Die Juden hätten aus dem Gesetz und den Propheten wissen müssen, daß die Berufung der Heiden zum messianischen Reich im göttlichen Heilsplan von Ewigkeit beschlossen lag. Paulus sieht diesen göttlichen Heilsplan schon im fünften Buch Moses (32, 21) ausgesprochen: „Ich will euch eifersüchtig machen auf ein Nicht-Volk, gegen ein unverständiges Volk will ich euch reizen.“ Unter dem Nicht-Volk und dem unverständigen Volk versteht Moses die Heiden, die nicht Gottesvolk sind wie Israel und nichts von den Wahrheiten und Verheißungen wissen und verstehen, die Gott seinem Volk offenbarte.
Weil Israel durch seine Verblendung trotz aller Gerichte ein unverständiges Volk geworden war, wird sich Gott der Heiden bedienen, um Israel zu züchtigen. Er wird sie das Volk Gottes an Macht überflügeln lassen, daß Israel eifersüchtig wird und zornig über deren Stärke. Moses dachte an die politische Vormachtstellung der Heidenvölker in vormessianischer Zeit. Paulus wendet die Stelle auf die messianische Zeit und auf die hohe Begnadigung der Heidenwelt an. Die ein Nicht-Volk waren, ausgeschlossen vom alttestamentlichen Gottesreich, und ein unverständiges Volk, weil es nichts von der Heilsbotschaft wußte, haben diese Botschaft, die Predigt der Apostel, verstanden und mit Freuden angenommen.
Um wieviel leichter hätten die Juden sie verstehen müssen, die durch die Schriften der Propheten darauf vorbereitet waren. Darum haben die Juden keinen Grund, sich über die Bekehrung der Heiden zu ärgern und über deren reiche Begnadigung eifersüchtig zu sein. Die Unentschuldbarkeit der Juden bezeugt noch klarer ein Wort des Propheten Esaias (65, 1): „Ich ließ mich finden von denen, die mich nicht suchten, und ich wurde denen offenbar, die nicht nach mir fragten“, und das andere (65, 2): „Den ganzen Tag habe ich meine Hände nach einem ungehorsamen und widerspenstigen Volk ausgebreitet.“ Konnten die Heiden die Botschaft verstehen, dann auch die Juden. Israel ist nicht gefallen, weil es die Predigt nicht verstand, es fiel wegen seines Ungehorsams und seiner Widerspenstigkeit gegen Gott, die schon von Isaias beklagt wurde. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIV, 1937, S. 95 – S. 97