Der Römerbrief Kap. 11 Vers 30-34
Zusammenhänge des Heilsgeschehens – Die Verstocktheit der Juden wurde zum Segen der Heiden
Die Geschichte der Juden und Heiden entspricht sich in den entscheidenden Punkten. Bei beiden folgt auf eine Zeit des Ungehorsams gegen Gott eine Zeit göttlichen Erbarmens. Die Entwicklung vollzieht sich aber nicht in zwei Parallelen, die sich nicht berühren, vielmehr besteht nach dem ewigen Heilsratschluss Gottes zwischen dem Ungehorsam der Heidenwelt und der Treulosigkeit der Juden einerseits und zwischen der Berufung der Heiden zur Kirche und der Wiederbegnadigung Israels am Ende der Zeiten anderseits eine Wechselbeziehung wie zwischen Ursache und Wirkung.
Schon zur Zeit Abrahams war die Welt um ihn zum Götzendienst abgefallen; sie hatte in selbst verschuldeter Verblendung den einen wahren Gott abgelehnt und gehorchte nicht mehr dem natürlichen Sittengesetz, das derselbe Gott in ihre Seele eingeschrieben hatte. Darum zog er seine Hand von den Heiden zurück, dass sie in einen Abgrund der Verkommenheit stürzten, aus dem keine menschliche Macht sie mehr retten konnte. Seine Liebe wandte er nun den Nachkommen der Patriarchen zu, um sich aus ihnen sein Volk zu bilden. Aber auch Israel wurde ungehorsam; es brach treulos den Bund, den der Herr mit ihm geschlossen hatte, und verweigerte schließlich dem von ihm verheißenen und gesandten Messias Glaube und Gefolgschaft.
Die zum messianischen Gastmahl Geladenen lehnten es ab, der göttlichen Einladung Folge zu leisten (Luk. 14, 15ff). Da zog der Herr seine Hand von seinem eigenen Volk zurück, dass es sich in seinem Unglauben verhärtete, und wandte sein Erbarmen der Heidenwelt zu. Wie der Herr in der Parabel seine Diener aussandte, um sein Haus mit den Bettlern am Wag, mit Krüppeln, Blinden und Lahmen zu füllen, so schickte er seine Apostel zu den von den Juden verachteten und gemiedenen Heiden, die mit Freuden die Heilsbotschaft vernahmen. So fügte es Gottes Weisheit, dass der Ungehorsam und die Verhärtung der Juden die Kräfte für eine planmäßige und intensive Missionierung der heidnischen Welt frei machte und dass die Erfolge dieser Mission der Kirche tausendfach mehr gaben, als sie durch die Bekehrung der Juden gewonnen hätte.
Die Berufung der Heiden in das messianische Reich hatte zunächst die Juden in ihrem Ungehorsam verhärtet und in ihrer Ablehnung der Heilsbotschaft noch mehr versteift. Sie ärgerten sich, dass man die Heiden in die Kirche aufnahm, ohne von ihnen das Bekenntnis zum mosaischen Gesetz und die Annahme der Beschneidung zu fordern, und bereiteten vor allem dem Apostel Paulus überall große Schwierigkeiten und suchten sein Missionswerk selbst durch Anwendung von Gewaltmitteln zu zerstören. In dieser feindseligen Einstellung gegen das Christentum sind sie durch die Jahrhunderte bis heute verharrt. Aber sie werden nicht immer darin verharren. Wie ihr Ungehorsam durch Gottes Fügung zu einem Segen für die Heidenwelt wurde, so wird das Glück, das die bekehrten Heiden im Besitz der Gnade und der christlichen Wahrheit gefunden haben und finden, für Gott ein Mittel werden, dass auch die Juden wieder Gnade erlangen und in die Kirche aufgenommen werden.
So läßt Gott Heiden und Juden durch eine Periode des Ungehorsams und der Gottesferne hindurch gehen, um sie für seine Erbarmung und für den Empfang seiner Gnaden reif zu machen. Das größte Hemmnis, das sich dem göttlichen Erbarmen entgegen stellt, ist der Stolz der Menschen und der Völker. Dem Stolzen ist der Gedanke unerträglich, in allem von seinem Schöpfer und höchsten Herrn abhängig zu sein; er will seine eigenen Wege gehen und aus eigener Kraft sein Glück schmieden. Nur in einer demütigen Seele und nur in einem gläubigen Volk findet die Gnade den rechten Boden, ihre Wirksamkeit zu entfalten.
Es kann ein Verdammungsurteil sein, wenn der Herr hochmütige Menschen und gottlose Nationen in ihrem Ungehorsam „einschließt“, sie in ihrer Treulosigkeit verhärtet. Es kann aber auch ein Mittel sein, den harten Boden für die Gnade aufnahmefähig zu machen. Sie sollen in der Tiefe der sittlichen Not, in die sie geraten sind, erkennen, wie bitter und böse es ist, den Herrn verlassen zu haben, und aus ihrer Ohnmacht die Hände wieder zur göttlichen Allmacht erheben. Paulus sah als erster in der griechisch-römischen Heidenwelt Gottes weisheitsvollen Plan sich enthüllen; er durfte als erster durch göttliche Offenbarung schauen, dass auch der Ungehorsam des jüdischen Volkes, die Ablehnung der messianischen Heilsbotschaft, nicht das letzte Stadium seiner Geschichte sein wird, dass vielmehr Gott auch den Ungehorsam Israels zuließ, damit es wieder Gnade finden könne. Was der Apostel in seiner Zeit erlebte, hat sich seitdem oftmals wiederholt.
Die Weltgeschichte sah Menschen und Völker in den Abgrund des Unglaubens und der Gottlosigkeit absinken, sie sah auch, wie die seelische Not sie wieder für Wahrheit und Gnade empfänglich machte.
Tief innerlich ergriffen und in anbetendem Staunen steht der Apostel vor dem Bild der unendlichen Erbarmung Gottes, das sich seinen betrachtenden Blick dargeboten hat. Er durfte die letzten und tiefsten Zusammenhänge alles Heilsgeschehen erkennen und schauen, wie die göttliche Weisheit auf verschlungenen, uns Menschen oft rätselhaften Pfaden das Ziel der göttlichen Liebe erreicht. Welch ein Staunen muss es erst auslösen, wenn am Jüngsten Tag und in der Anschauung Gottes sich uns die geheimnisvollen Wege der Vorsehung enthüllen und wir die Weltgeschichte in ihrem wahren Sinn in Gott erkennen.
Das Wort des großen Apostels wird alsdann zum gemeinsamen Bekenntnis der ganzen Menschheit: „O Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind seine Urteile, wie unaufspürbar seine Wege!“ Der Blick über die Geschichte der Menschen und Völker macht es offenbar, wie unerschöpflich reich der Herr in seiner Gnade und Erbarmung ist, wie reich an Macht, zu retten, und an Mitteln und Wegen, sein Ziel zu erreichen. Welch eine Fülle göttlicher Weisheit und göttlichen Wissens enthüllt sich in der Leitung der einzelnen Menschen und in der Regierung der Nationen, im Strafen und Begnadigen. Wie verstand er es, alles Geschehen in Jahrhunderten und Jahrtausenden seinem Heilsplan dienstbar zu machen. Wie erbärmlich klein erscheint da der Mensch, der es gewagt hat, Gottes Walten zu kritisieren.
Gott ist in seinen Entschließungen absolut frei, kein Mensch hat sie je beeinflussen können. Der menschliche Verstand ist nicht einmal fähig, Gottes Wesen und Gottes Gedanken zu erfassen. Die ewige Weisheit hat des menschlichen Rates nie bedurft; sei Wille kann nie durch irgend eine menschliche Großtat zu einem bestimmten Handeln verpflichtet werden. Wie Gott allein der Ursprung, der Schöpfer und das Ziel alles Seins ist, so ist er auch Urgrund, Lenker und Ziel alles Geschehens, „denn aus ihm und durch ihn und für ihn wird er zur Erfüllung gebracht; seine Ehre und Verherrlichung ist dessen letztes und höchstes Ziel. Ihm gebührt darum die Ehre in alle Ewigkeit. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIV, 1937, S. 105 – S. 108