Der Römerbrief Kap. 11 Vers 1-10

Gott hat Israel nicht für immer verstoßen

Israel hatte den Ausschluss der großen Masse von dem messianischen Heil selbst verschuldet. Dennoch hat der Herr sein Volk nicht verstoßen und den Ratschluss der Auserwählung, den er mit vollkommener Freiheit ohne Rücksicht auf Verdienst oder Nichtverdienst faßte, nicht zurückgenommen. Dafür zeugt allein schon die Berufung des Pharisäers und Christenverfolger Saulus zum Welt Apostolat. Hätte Gott Israel ganz und für immer verworfen, er hätte nicht einem Glied dieses Volk eine so bedeutsame Aufgabe in der Ausbreitung seines Reiches übertragen.

Der Ausschluss Israels vom Heil kann darum unmöglich der tragische Ausgang einer erhabenen Sendung und das Ende der zahlreichen Auszeichnungen dieses Volkes sein. Gott wußte ja alles voraus, als er Abraham berief, als er die nachkommendes Patriarchen Jakob sich zum Eigentumsvolk erkor und mit ihm am Sinai einen Bund schloss. Hatte das Vorauswissen der Untreue ihn nicht abgehalten, Israel aus allen Nationen zu erwählen, dann kann das Eintreffen des Vorausgewußten nicht Grund sein, dem Volk für immer den Charakter der Auserwählung zu nehmen.

Die Verhältnisse liegen ähnlich wie zur Zeit des Propheten Elias (3. Kön. 19). Jezabel, die heidnische Gemahlin des Königs Achab von Israel, eine fanatische Verehrerin des Götzen Baal, war bestrebt, mit allen Mitteln den Kultus des wahren Gottes im Nordreich auszurotten und den Baalskult zur Herrschaft zu bringen. Darum richtete sich ihr Hass besonders gegen die Jahwe-Propheten, die das Volk im wahren Glauben zu erhalten suchten, und sie ließ sie verfolgen und hinmorden. Als Elias nach dem Opfer auf dem Berg Karmel vierhundert Baalspriester hatte töten lassen, musste er vor der Rache der Königin fliehen und zog sich nach Sinai zurück. Überwältigt von den traurigen religiösen Zuständen ins einer Heimat, niedergeschlagen durch die Verfolgung der Propheten, hielt er im Nordreich alles für verloren und den Abfall des ganzen Volkes von dem wahren Gott zu dem Götzen Baal für eine vollendete Tatsache. Darum klagte er: „Herr, deine Propheten haben sie getötet, deine Altäre zerstört, ich allein bin übrig geblieben, und auch mir trachten sie nach dem Leben.“ Der Prophet sah in seiner verzagten Stimmung nur die gottlos gewordene Masse, er sah nicht die Minderheit, die noch dem Herrn die Treue gewahrt hatte.

Auf diese wies Gott Elias hin: „Ich habe mir noch siebentausend Männer übrig behalten, die ihr Knie nicht vor Baal gebeugt haben.“ Er sagt nicht: „Es sind noch siebentausend übrig geblieben“, sondern: „Ich habe mir noch siebentausend übrig behalten“. Gott hatte damals nicht das ganze Volk dem Abfall preisgegeben, vielmehr sich durch seine Gnade einen Rest vor dem allgemeinen Verderben bewahrt. Nach freier Wahl hatte er sich treue Männer erhalten; ihre Treue war darum nicht eigenes Verdienst, sondern Werk der göttlichen Gnade. Ohne diese Hilfe wären auch sie in den Strudel des Abfalls hinein gezogen worden.

Diese siebentausend Männer sind ein Typus jener Juden, die der Herr nicht verstieß, sondern zum messianischen Heil, zum christlichen Glauben berief. Auch dieser Rest verdankt seine Rettung nicht der eigenen Leistung, nicht eigenem Verdienst, vielmehr hat Gott auch ihn wie jene siebentausend aus freier und unverdienter Liebe aus der dem Verderben geweihte Masse heraus genommen und in ihm den Fortbestand des auserwählten Volkes verbürgt. Geschah also die Auswahl des Restes aus Gnade, dann kann keiner der Erwählten sich auf Werke, auf verdienstliche Leistungen berufen. Man könnte ja sonst nicht mehr von Gnade reden; denn es gehört zum Wesen der Gnade, dass sie eine ganz freie Gabe Gottes ist.

Der Apostel faßt die ausgesprochenen Gedanken nochmals zusammen: Israel hatte als Volksganzes das Heil, die Aussöhnung mit Gott durch Jesus Christus, nicht erlangt, sondern nur ein von Gott aus Gnade auserwählter Teil. Die große Masse hatte sich durch ein falsches, von jüdischem Nationalstolz verzeichnetes Messiasbild und durch die pharisäische Irrlehre, dass die äußere Beobachtung des Gesetzes einen Rechtsanspruch auf das messianische Heil erwerbe, blenden lassen und in ihrer Verblendung einen Erlöser von Schuld und Sühne und eine Erlösung aus Gnade auf Grund des Glaubens abgelehnt. Zur Strafe ließ Gott ihre Verstockung zu, so dass sie für die Predigt der christlichen Wahrheit und für die im Evangelium lebende Gotteskraft unempfänglich wurde. So unglaublich es erscheinen mag, dass der Herr sein Volk, das er zum Träger der Wahrheit und der messianischen Offenbarung berufen hatte, verhärtete, es hat sich nur Christus und den Aposteln gegenüber wiederholt, was schon der Prophet Jesajas (29, 10) bei seinen israelitischen Zeitgenossen erleben musste. Schon damals gab Gott ihnen „einen Geist der Betäubung“, er strafte sie mit einem Zustand geistiger Stumpfheit, dass alle Warnungen und Droh-Weissagungen des Propheten ohne Eindruck blieben. Selbst Moses klagte bereits, dass Gott seinem Volk Augen gegeben habe, um nicht zu sehen, und Ohren, um nicht zu hören (5. Mos. 29, 3). Die Unempfänglichkeit für die göttliche Wahrheit kann geradezu als Erbfehler Israels bezeichnet werden.

Es ist darum nicht zu verwundern, dass die Juden auch der Heilsbotschaft Christi gegenüber verstockt blieben. Der Ausschluss von dem messianischen Heil ist nur die Erfüllung der prophetischen Drohung und der Ankündigung des 69. Psalmes, der hier David zugeschrieben wird. „Es soll ihr Tisch zur Schlinge werden, zum Fall und zum Anstoß und zur Vergeltung. Ihre Augen sollen finster werden, dass sie nicht sehen, und ihren Rücken sollst du für immer beugen“ (69 [68], 23f). Der Psalm wird in den neutestamentlichen Schriften durchweg messianisch gedeutet und zwar als Weissagung des göttlichen Gerichtes über das Israel der messianischen Zeit. Was ihnen „Tisch“, köstliche Speise, sein sollte, nämlich die Segnungen des messianischen Heils, wird ihnen zum Verhängnis und zum Verderben werden. Sie werden an dem a gebotenen Heil Anstoß nehmen und darum straucheln und fallen.

Wegen der Ablehnung des Messias werden sie auch künftig für die Wahrheit blind sein; sie werden vor ihren Verfolgern und Drängern sich beugen müssen. Die Erfüllung dieses Fluches ist das schmerzliche Erlebnis des Apostels, und seitdem wirkt er sich durch die Jahrhunderte aus. Aber er ist nicht das Ziel und Ende der Geschichte Israels. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIV, 1937, S. 98 – S. 100