Der Römerbrief Kap. 9 Vers 30 bis Kap. 10 Vers 13
Aus Stolz lehnten die Juden die Gerechtigkeit aus dem Glauben ab
Die Juden haben die Erlösung durch Christus abgelehnt
Dass Israel, von Gott zum Träger der messianischen Verheißungen auserwählt und berufen, den Heiden einmal das Heil zu vermitteln, nun in seiner großen Masse von diesem Heil ausgeschlossen wurde, ist ein beklagenswertes Schicksal. Aber es steht nicht im Widerspruch zu den göttlichen Verheißungen, die sich ja nur an den wahren Abrahams-Kindern erfüllen sollten und konnten. Die Verblendung und Verwerfung eines nicht unbeträchtlichen Teiles des jüdischen Volkes, die bis in unsere Zeit noch andauert, ist selbst verschuldet. Die Juden erstrebten Gerechtigkeit vor Gott, aber auf dem Weg der Selbsterlösung durch die Werke des Gesetzes, nicht auf dem von Gott vorher verkündeten und eingeschlagenen Weg der Erlösung durch Jesus Christus auf Grund des Glaubens. Darum konnten sie sich nicht auf ihre Eingliederung in das Volk Gottes berufen. Die Heiden dagegen schlugen den von Gott verzeichneten Weg ein und erreichten so das Ziel, die Gerechtigkeit. So kam es, dass sie, die nichts von den messianischen Verheißungen wußten, denen das Gesetz und die gesamte alttestamentliche Offenbarung als Führer zu Christus hin unbekannt waren, die Rechtfertigung, und zwar einzig aus dem Glauben an Christus erlangten. Israel aber hatte es sich viele Anstrengungen kosten lassen, um das „Gerechtigkeits-Gesetz“, d. i. das Gesetz, das Gerechtigkeit in jeder Beziehung forderte, zu erfüllen, konnte aber das „Gesetz“, die Erfüllung des Gesetzes oder die Gerechtigkeit auf dem Weg des Gesetzes, nicht erreichen.
Dieser Misserfolg war unvermeidlich. Israel wollte große Schritte auf dem Pfad der Gerechtigkeit tun, aber es waren Schritte auf einem falschen Pfad, der niemals zum Ziel führen konnte. Sie verharrten eigensinnige auf dem Weg der Gesetzes-Gerechtigkeit, weil es ihrem Stolz schmeichelte, das Heil durch eigenes Tun zu verdienen und nicht es der schenkenden Liebe Gottes verdanken zu müssen. Darum lehnten sie eine Rechtfertigung als Gnade Gottes auf Grund des Glaubens ab, verweigerten das demütige Eingeständnis der eigenen Schadhaftigkeit, Erlösungs-Bedürftigkeit und Ohnmacht, erkannten die Unvereinbarkeit der Rechtfertigung nicht an. So ward ihnen Christus, der Grundstein, auf dem ihr Leben sich aufbauen sollte, zu einem „Stein des Anstoßes“, zu einem Stein, an dem sie sich stießen, so daß sie strauchelten und fielen.
Die Weissagung des Propheten Jesaias hat sich an den Juden erfüllt
So hat sich die Weissagung des Propheten Jesaias an den Juden erfüllt: „Siehe, ich setze in Sion einen Stein des Anstoßes und einen Feld des Ärgernisses; und wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden.“ Das Zitat ist aus zwei Aussprüchen des Propheten zusammengesetzt. An der ersten Stelle (8, 14) sagt er, dass Jahve für Israel und Juda zu einem Stein werde, an dem man sich stößt, und zu einem Fels, auf dem man strauchelt. Der Apostel setzt, wie häufig so auch hier, Jahre und Christus gleich. Christus ist ein Zeichen des Widerspruches, er gereicht zum Fall und zur Auferstehung vieler in Israel. Die zweite stelle (28, 16) lautet: „Ich habe in Sion einen Grundstein gelegt, einen bewährten Stein, einen kostbaren Eckstein auf festem Grund. Wer glaubt, wird nicht wanken.“ Der Stein ist das Gottesreich der messianischen Zeit, das in Sion seinen Mittelpunkt und Ausgang haben soll. Der Repräsentant dieses Reiches ist der Messias, Jesus Christus. Der Prophet fordert zum Glauben an dieses Verheißungswort auf; denn nur der Glaube bewahrt vor dem Fall. Indem Paulus die beiden Stellen miteinander verbindet, gewinnen sie den Sinn: Christus ist der kostbare Stein, den Gott nieder gelegt hat, doch ist dieser zu einem Stein geworden, an dem die Juden Anstoß genommen haben. Weil sie nicht glaubten, strauchelten sie und fielen. Das Prophetenwort hat sich erfüllt; Gottes Heilsweg ist ihnen zum Fluch geworden.
Der Herzenswunsch des Apostels Paulus
Ehe der Apostel den Gedanken über das Schicksal der Juden weiter führt, bezeugt er seine Teilnahme an dem Los seiner Volksgenossen. Es ist sein Herzenswunsch und der Gegenstand seines Felsens zu Gott, dass auch sie, seine Brüder, zum Heil gelangen möchten. Er musste ihnen bestätigen, dass im Judentum seiner Zeit wirklich Eifer für Gott zu finden war, ein ernstes religiöses Leben und Streben, Eifer für Gottes Ehre und im Dienst des Herrn. Aber es war ein Eifer, dem die rechte Einsicht fehlte, der sich in falscher Richtung betätigte. Sie verkannten die „Gerechtigkeit aus Gott“, die Gerechtigkeit, die Gott durch Christus den Menschen anbot. Sie jagten einem falschen Ideal nach, sie verharrten trotz der Worte der Propheten und trotz der Predigt der Apostel dabei, die Gerechtigkeit auf eigenem Weg und mit eigener Kraft zu erlangen. Sie wollten keine durch frei Gnade geschenkte Rechtfertigung, sondern erstrebten eine selbstverdient Gerechtigkeit, auf die sie Gott gegenüber einen Rechtsanspruch erheben konnten. Die Juden wollten auf ihre Leistung pochen und sich ihrer Eigengerechtigkeit rühmen können. Es ist ein Hochmut, an dem auch unsere Zeit vielfach krankt. Sie lehnt den Gedanken an Fremderlösung und an Gnade ab und unterwirft sich darum nicht den von Gott gesetzten Bedingungen, unter denen er allein die Rechtfertigung verleiht.
Es war eine verhängnisvolle Verkennung des von Gott bestimmten Zweckes des Gesetzes und seiner Beziehung zu Christus. Nach dem göttlichen Heilsplan sollte das Endziel des Gesetzes Christus sein zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt. Das griechische Wort Delos kann sowohl „Ende“ als auch „Ziel“ bedeuten; beides trifft bei Christus zu. Er ist das Ende des alttestamentlichen Gesetzes, weil es durch ihn, den Stifter des Neuen Bundes, abgetan ist. Er ist aber auch das Ziel des Gesetzes, weil es zu ihm hinführen sollte. Mit dem Erscheinen Christi und mit dem Abschluss seines Erlösungswerkes hat es seinen Zweck als Führer zu Christus erfüllt, als Führer zu dem, der jedem Glaubenden auf Grund des Glaubens die Gerechtigkeit verleiht.
Gesetzes-Gerechtigkeit und Glaubens-Gerechtigkeit
Nochmals zeigt der Apostel, dass Erlösung und Rechtfertigung nur auf Grund des Glaubens erlangt werden kann, und führt dafür abermals einen Beweis aus der Heiligen Schrift und zwar aus dem Gesetzbuch des Moses selbst. Er stellt Gesetzes-Gerechtigkeit und Glaubens-Gerechtigkeit einander gegenüber. Die Gesetzes-Gerechtigkeit stützt sich auf das Gotteswort in 3. Mos. 18, 5: „Der Mensch, der sie tut, wird durch sie leben.“ Im Urtext heißt die Stelle: „Bewahrt meine Satzungen und meine Gebote; wer sie hält, wird durch sie leben.“ Wer also ein Gerechter im Sinne des Gesetzes sein will, wer die im Gesetz versprochenen Segnungen erlangen will, muss alle Gebote erfüllen. Missachtet er ein gebot, dann ist er ein Übertreten des Gesetzes und hört auf, ein Gerechter im Sinne des Gesetzes zu sein. Alle Gebote zu beobachten, ist aber eine sehr schwierige, ja unmögliche Aufgabe. In diesem Sinne deutet auch Chrysostomus die Stelle: „Auf dem Weg des Gesetzes kann niemand auf eine andere Weise gerecht werden als dadurch, dass er es in allen seinen Punkten erfüllt. Das ist aber niemandem möglich; also ist es nichts mit der Gerechtigkeit.“
Gerechtigkeit aus dem Glauben
Anders ist es mit der Gerechtigkeit aus dem Glauben. Der Apostel zitiert 5. Mos. 30,11-14 in freier Anwendung auf Christus. Dort heißt es: „Dieses Gebot, das ich euch heute gebe, übersteigt deine Kräfte nicht, und es ist (für dich) nicht unerreichbar. Nicht im Himmel ist es, dass du sagen könntest: ‚Wer steigt uns in den Himmel, um es herab zu holen und es uns zu verkündigen, damit wir danach tun?‘ Sondern überaus nahe liegt uns das Wort, in deinen Mund und in dein Herz (ist es gelegt), so dass du danach tun kannst.“ Die Stelle spricht von dem Wort des Gesetzes. Es ist dem Israeliten nicht fremd, es liegt ihm nicht in weiter Ferne, dass es erst von den Sternen oder jenseits des Weltmeeres herbei geholt werden müsste. Es ist dem Israeliten vielmehr so nahe wie etwas, was ihm auf der Zunge liegt, so innerlich wie etwas, was er auf dem Herzen trägt. Es ist dem Menschen angepaßt. Was hier von dem Gesetz als dem geoffenbarten Wort Gottes gesagt ist, wendet Paulus auf den Logos, , das ewige wesensgleiche Wort Gottes, das Fleisch geworden Gesetz des Neuen Bundes, an. Die Glaubens-Gerechtigkeit ist in ihren Forderungen leicht zu erfüllen; sie kennt nur ein einziges Gebot, den Glauben an Jesus Christus. Dieses ist nicht fremd, nicht fern liegend, denn Christus und sein Heil sind schon da. Niemand braucht Sorge zu haben: Wer kann in den Himmel hinauf steigen, um Christus herab zu holen? Er ist schon längst vom Himmel herab gestiegen. Man braucht nicht Sorge zu haben: Wer hat Macht über den Tod, dass er Christus aus dem Grab und der Unterwelt heraus holen könnte? Christus ist selbst aus dem Grab auferstanden. Wie das alttestamentliche Gesetz dem Volk Israel ohne eigenes Zutun von Gott geschenkt wurde, so hat Gott die Glaubensbotschaft vom Heil in Christus durch die Predigt der Apostel schon in den Mund in das Herz gelegt.
Wer mit dem Mund bekennt, dass Christus der Herr ist, und in seinem Herzen glaubt, dass er von den Toten auferstanden ist, wird schon gerettet. Die Gottheit Christi und die Auferstehung Christi sind die Wesenspunkte des Glaubens. Der Christ braucht sich nicht erst um das Heilswort zu bemühen; er hat es nur anzuhören, gläubig aufzunehmen und zu bekennen, dann kommet in den Besitz des Heils. Denn mit dem Herzen glaubt man zur Gerechtigkeit und mit dem Mund bekennt man zum Heil. Sagt doch schon der Prophet Jesaias an der oben angeführten Stelle: „Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden“ (28, 16).
Die Bedingung für die Rettung gilt für alle
Ist nicht das Gesetz, sondern der Glaube an Christus der Weg zum Heil, dann fällt der Unterschied zwischen Juden und Hellenen. Er muss wegfallen, denn Christus ist der Herr der Juden und der Heiden. Haben beide den gleichen Herrn, dann ist es nicht einzusehen, warum er beide so verschieden behandeln sollte. Christus ist auch reich genug, um alle zu erlösen und allen das Heil auf dem Weg der Gnade zu gewähren, die ihn darum bitten. Paulus findet diese Wahrheit bereits in einem Wort des Propheten Joel (3, 5 (2, 32)) ausgesprochen: „Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.“ Joel spricht an dieser Stelle von dem Gericht der messianischen Zeit, das Gottlose und Gerechte für immer scheidet und über das ewige Schicksal der Menschen entscheidet. Die Rettung ist an eine Bedingung geknüpft, an das Bekenntnis des Jahve-Kyrios, also an den Glauben. Diese Bedingung gilt für alle. Paulus wendet auch hier das Wort, das von Jahve-Kyrios gilt, auf Christus-Kurios an. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIV, 1937, S. 91 – S. 95