Der Römerbrief Kap. 9 Vers 1-13
Paulus schmerzt das Schicksal Israels, seines Volkes Kap. 9, Vers 1-5
Je tiefer Paulus in das Geheimnis der Erlösung eingedrungen war, je mehr sich ihm der Reichtum der Christusgemeinschaft erschlossen hatte und die Größe der Heilsgnade ihm aufgeleuchtet war, um so lebhafter erfaßte ihn Wehmut und Schmerz, dass sein eigenes Volk, wenigstens die große Masse des Volkes, von diesem Segen ausgeschlossen war.
Obwohl er Christusjünger mit seiner ganzen Seele war, obwohl er das Heiden-Apostolat als eine besondere Gnade ansah und sich mit vollem Eifer den Aufgaben dieser Sendung widmete, obwohl er immer wieder betonte, dass die vom Gesetz aufgerichtete Scheidewand zwischen Judentum und Heidentum in Christus gefallen sei, hörte er dennoch nicht auf, sein Volk zu lieben. Er blieb mit ihm verwachsen, mochte er auch gerade von Seiten seiner Volksgenossen den leidenschaftlichsten Anfeindungen und Verfolgungen ausgesetzt sein. Darum schmerzte es ihn tief, die große Masse seines Volkes außerhalb der Kirche stehen zu sehen. Es blieb eine Wunde, die nie ganz vernarbte, die auch jetzt wieder aufbrach, da er den römischen Christen von der Herrlichkeit der Gnade und des Heiles schrieb.
Vielleicht hatten ihm Juden und Judenchristen den Vorwurf gemacht, dass ihm nichts an dem Schicksal seines Volkes liege, da er sich fast ausschließlich mit der Bekehrung der Heiden beschäftigte. Solchen Vorwürfen gegenüber beteuert der Apostel seine Liebe zu seinen Volksgenossen und seine tiefe Trauer über die Verwerfung Israels: „Ich sage die Wahrheit in Christus, ich lüge nicht, mein Gewissen bezeugt es im Heiligen Geist.“ Er beruft sich auf seine Christusgemeinschaft.
Wie sollte er, der sagen durfte, dass Christus in ihm lebt, lügen und zwar in einer so ernsten Sache, wie es doch seine Stellung zu Israel ist? Er beruft sich auf sein Gewissen, das ja keine rein menschliche Instanz ist. Es steht unter dem Einfluss der Gnade und des Heiligen Geistes, so dass eine Verletzung der Wahrheit, eine Unaufrichtigkeit ausgeschlossen ist.
Wäre es möglich, dass er durch den Verzicht auf seine eigene Christus-Gemeinschaft und damit auf sein ewiges Heil den Juden die Aufnahme in die Christus-Gemeinschaft ermöglichen könnte, er wäre zu diesem unsagbar schweren Opfer bereit. In dieser hochherzigen, selbstlosen Liebe zu seinem Volk tritt Paulus ebenbürtig an die Seite eines Moses, der mit einem ähnlichen Anerbieten an Gott um die Zurücknahme der Verwerfung Israels flehte, als das Volk sich durch die Anbetung des goldenen Kalbes schwer versündigt hatte: „Vergib ihnen ihre Sünde. Wo nicht, so tilge mich aus dem Lebensbuch, das du geschrieben hast“ (2. Mos. 32, 32).
Der Apostel weiß wohl, dass ein solches Opfer nie von Gott angenommen wird, dass der Mensch zum Anderen nicht auf sein eigenes Heil verzichten kann. Aber er greift zum Unmöglichen, um den Juden zu zeigen, wie groß und echt auch jetzt noch seine Liebe zu ihnen ist.
Sein Schmerz ob der Verwerfung seines Volkes und des Ausschlusses vom messianischen Heil ist um so größer, als Israel als auserwähltes Volk in einzigartiger Weise begnadet und zum Empfang des Heils vorbereitet worden war. Sie sind „Israeliten“, d. i. Gottesstreiter; sie tragen den Ehrennamen, der einst dem Patriarchen Jakob von Gott verliehen wurde. Ihnen gehört die „Sohnschaft“ im auszeichnenden Sinn; denn schon bei der Berufung nannte der Herr Israel seinen erstgeborenen Sohn (2. Mos. 4, 22).
Ihm gehörte die „Herrlichkeit“; darunter versteht die Heilige Schrift die geheimnisvolle Gegenwart Gottes in der Wolkensäule während des Wüstenzuges und über der Bundeslade im Allerheiligsten. Nur mit Israel hatte der Herr einen feierlichen Bund geschlossen, nur ihm seinen heiligen Willen im Gesetz geoffenbart. Nur Israel diente in seinem Kult dem wahren Gott, nur ihm waren die messianischen Verheißungen zu treuen Händen anvertraut.
Mochten auch die Heidenvölker sich ihrer großen Männer rühmen und sie als Halbgötter verehren, sie können mit den Vätern Israels nicht verglichen werden, da mit diesen der einzige wahre Gott verkehrte. Die Krönung aller dieser Vorzüge aber ist die Abstammung des Messias dem Fleisch nach aus dem Volk der Juden, des Messias, der zugleich Gott ist über alles. Deutlich bekennt sich hier Paulus zu den zwei Naturen in Christus; er ist Gott und Mensch zugleich.
Es ist unmöglich, dieses klare Bekenntnis zur Gottheit Christi durch Textänderung oder durch Beziehung des „Gott über alles“ auf den Vater zu beseitigen; beides wäre eine Vergewaltigung des Textes. Was aber Paulus bekennt, ist auch der Glaube seiner Zeit. Eine solche Lobpreisung auf Christus, den Gott über alles, wäre in einem Brief noch keine dreißig Jahre nach dem Tod des Herrn undenkbar, wenn der Glaube an die Gottheit Christi nicht schon damals Gemeingut der Christen gewesen wäre.
Die Verheißungen gelten nur dem geistlichen Israel (Kap. 9, Vers 6-13)
Steht aber der Ausschluss der großen Masse des jüdischen Volkes vom messianischen Heil nicht im Widerspruch zu Gottes Wort? Musste nicht der getreue Gott die Verheißungen, die er dem ganzen Israel gegeben hatte, auch an ganz Israel erfüllen? Verheißung und Verwerfung stünden nur dann im Widerspruch zur göttlichen Treue, wenn Gott die Erfüllung seines Wortes allen leiblichen Nachkommen Abrahams zugesagt, sich an Fleisch und Blut gebunden hätte. Dies tat er nicht, vielmehr zeigte er bereits zu Lebzeiten der Patriarchen, dass die Geburt aus den Stammvätern Israels noch keinen Anspruch auf die Heilsgüter bedinge, dass man ein Sohn Abrahams und Isaaks sein und doch von der Verheißung ausgeschlossen werden kann.
Das erste Beispiel entnimmt Paulus der Geschichte der Söhne Abrahams. Obwohl Ismael der Erstgeborene war, wurde nicht er der Träger der Verheißung, dass in seinem Samen die ganze Welt gesegnet werden soll, sondern der noch nicht gezeugte Isaak. Denn Gott sprach: „In Isaak wird dir Nachkommenschaft werden“ (1. Mos. 21, 12). Darum sind nur die Nachkommen Isaaks Kinder Abrahams in Sinne der Verheißung.
Gott traf also schon von Anfang an eine Auslese unter den Söhnen des Patriarchen. Dazu kommt, dass Isaak nicht wie Ismael ein „Kind des Fleisches“ war, sondern ein „Kind der Verheißung“, ein Kind der Gnade. Er verdankte seine Geburt nicht den Gesetzen der rein natürlichen Zeugung, sondern einem außerordentlichen Werk der göttlichen Allmacht, und zwar auf Grund einer Verheißung; denn Saras Zeugungsfähigkeit war in ihrem hohen Alter längst erstorben.
Als der Herr mit zwei Engeln im Zelt Abrahams gastete, gab er dem Patriarchen die Verheißung: „Um diese Zeit (nach einem Jahr) will ich kommen, und Sara wird einen Sohn haben“ (1. Mos. 18, 10). Somit wurde Isaak auf Grund eines Gotteswortes geboren, er ist ein Kind der göttlichen Gnade. Damit ist erwiesen, dass die messianische Gotteskindschaft nicht an die natürliche Abrahams-Kindschaft anknüpft; Gott schafft sich seine Kinder selbst.
Bei Ismael und Isaak könnte man immerhin noch geltend machen, dass Gott Isaak, den Sohn der freien Sara, Ismael, dem Sohn der Sklavin, vorgezogen habe. Paulus fügt darum noch das Beispiel Esaus und Jakobs an, die beide Söhne des gleichen Vaters und der gleichen Mutter und außerdem noch Zwillingsbrüder waren.
Schon vor der Geburt, ehe sie irgend etwas Böses oder Gutes tun konnten, hatte Gott den Erstgeborenen Esau beiseite geschoben und Jakob zum Stammvater des Messias gemacht. Der Ältere sollte entgegen dem natürlichen Vorrecht der Erstgeburt dem Jüngeren dienen (1. Mos. 25, 23). Hier tritt die Freiheit der göttlichen Gnadenwahl noch schärfer hervor. Darum wurde die Mutter Rebekka schon vor der Geburt von dem göttlichen Ratschluss verständigt, „damit der in freier Wahl gefasste Ratschluss Gottes in Kraft bleibt“. Sittliche Leistungen hatten Gottes Wahl in keiner Weise beeinflusst.
Es handelt sich allerdings hier nur um die Vorherbestimmung zu der Gnade, Träger der Verheißung zu sein, nicht um das ewige Schicksal. Ebenso bedeutet die Liebe Gottes zu Jakob und der „Hass“ gegen Esau nicht die Annahme des einen und die Verwerfung des anderen. „Hassen“ ist nur ein starker Ausdruck für „weniger lieben“. Der Satz: „Jakob habe ich geliebt, Esau aber gehasst“, ist nach dem griechischen Text angeführt und bezieht sich an den beiden Grundstellen in 1. Mos. 25, 23 und Mal. 1, 2f auf die von Esau und Jakob abstammenden Völkern, die Edomiter und Israeliten. Die Worte sind von Paulus auf die Ahnherren der beiden Völker angewendet, weil ihr Schicksal in ihnen vorgebildet ist.
Der Apostel will durch dieses Beispiel nur die absolute Freiheit Gottes in der Berufung und Begnadigung der Menschen beleuchten und zeigen, dass der Herr nicht an natürliche Vorbedingungen wie Geburt und Werke gebunden ist. In diesem Sinn findet das Beispiel Anwendung auf alle Nachkommen Jakobs. Was Gott bei Abraham und Isaak tat, das hatte er auch an den Israeliten getan und aus ihnen nach freier Wahl eine verhältnismäßig kleine Schar zum messianischen Heil berufen. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIV, 1937, S. 82 – S. 85