Der Römerbrief des heiligen Apostels Paulus 9. Kapitel Vers 1-13

Die Freiheit der göttlichen Auserwählung

Nachdem der Apostel seine Heilslehre von dem Glauben, der in guten Werken lebendig sein muss, dargestellt hat, blickt er auf seine Nation, und bezeugt seinen tiefen Schmerz, dass das so sehr von Gott begnadigte Volk der Juden in so geringer Anzahl Anteil an der Heilsanstalt erlange. Deshalb bleibe aber das Wort Gottes, dass die Israeliten das Heil erhalten, nicht unerfüllt; man dürfe nämlich nur nicht übersehen, dass nicht äußere Verhältnisse, leibliche Abkunft oder gesetzliche Werke zu wahren, (geistigen) Israeliten, zu Kindern des Bundes machen, sondern die freie Auserwählung Gottes. Diese Auserwählung verträgt sich wohl mit der Gerechtigkeit Gottes; denn einmal hat Gott das unbedingte Recht, seine Gnade zu geben, wem er will, und man darf mit ihm nicht rechten, wenn er als Herr seiner Geschöpfe die Einen von seinem Reich und der Seligkeit ausschließt, die Andern in sein Reich zur Seligkeit aufnimmt, wie dieses Letztere nach den Weissagungen den Heiden und einem kleinen Rest der Juden zu Teil ward; – dann ist seine Auserwählung nicht willkürlich, sondern sie wird den Heiden nur zu Teil, weil sie glauben, und die Juden gehen ihrer verlustig, weil sie nicht durch den Glauben, sondern durch Gesetzeswerke zum Heil gelangen wollten.

1. Ich sage die Wahrheit in Christo (1), ich lüge nicht: mein Gewissen gibt mir Zeugnis im heiligen Geist (2):
2. dass ich große Trauer und beständigen Schmerz in meinem Herzen trage (3).
3. Denn ich wünschte selbst im Bann zu sein, los von Christo, statt meiner Brüder (4), die meine Verwandten sind dem Fleische nach (5), 1. Kor. 15, 9.
4. welche die Israeliten sind, denen die Kindschaft (6), die Herrlichkeit (7), der Bund (8), die Gesetzgebung, der Gottesdienst (9) und die Verheißungen (10) angehören,
5. denen die Väter (gehören) (11), und aus denen dem Fleisch nach (12) Christus stammt, der da ist über Alles, Gott, hoch gelobt in Ewigkeit Amen. (13)
6. Aber dies ist nicht (darum gesagt), als ob Gottes Wort zunichte geworden wäre (14); denn nicht Alles, welche von Israel abstammen, sind Israeliten,
7. noch Alle Kinder (15), die Nachkommen Abrahams sind: sondern (es heißt) (16): In Isaak soll dein Same genannt werden (17):
8. das ist: Nicht die Kinder des Fleisches sind Kinder Gottes, sondern die Kinder der Verheißung werden für Nachkommen gerechnet (18). Gal. 4, 28.
9. Denn die Worte der Verheißung sind diese: Um diese Zeit werde ich kommen, und Sara wird einen Sohn haben. 1. Mos. 18, 10.
10. So war es aber nicht nur mit dieser (19), sondern auch mit Rebekka, welche aus Einem Beilager mit Isaak, unserm Vater, empfangen hatte. (20)
11. Denn da (die Kinder) noch nicht geboren waren, und weder etwas Gutes noch Böses getan hatten, (damit der Ratschluss Gottes aus freier Wahl bestände)
12. ward ihr, nicht um der Werke willen, sondern Kraft des Rufenden gesagt:
13. Der Ältere wird dem Jüngeren dienen, wie geschrieben steht: Jakob liebe ich, Esau aber hasse ich. (21)

Anmerkungen:

(1) kraft der Gemeinschaft mit Christo, als Christ. Paulus nahm als ausgemacht an, dass ein Christ als Christ gar nicht lügen könne.
(2) Unter Erleuchtung des heiligen Geistes, kraft seiner Inwohnung in mir. Ich sage also nichts Unwahres.
(3) Warum? Sagt der Apostel aus Schonung nicht. Die Ursache ist aber, weil der größte Teil seiner Nation des Unglaubens wegen nicht in die Kirche aufgenommen wurde.
(4) Der Bann, Vertilgungsfluch, wurde bei den Israeliten über Völker, Städte, Tiere, einzelne Menschen ausgesprochen, wodurch diese Gegenstände unwiderruflich der gänzlichen Vernichtung gewidmet wurden (3. Mos. 27, 28). Wenn Paulus diesen Fluch auf sich zu nehmen wünscht, drückt er in heldenmütiger, gleichsam blinder Liebe, die nicht überlegt, ob ihr Opfer auch möglich sei, das Verlangen aus, ewig verworfen und von Christo getrennt zu werden, wenn nur dadurch seine Brüder gerettet würden (Chrys., Orig., Theophyl.). Das Unmögliche der Erfüllung dieses Wunsches übrigens, dass Paulus als Gottliebender statt Anderer ewig verworfen werde, liegt treffend in der jüngst vergangenen Zeit des griechischen Zeitwortes, welches den Sinn hat, als ob im Deutschen stünde: Denn ich wünschte, wenn es möglich wäre, selbst etc.
(5) der Abstammung nach von Jakob, der auch Israel hieß (1. Mos. 32, 28).
(6) die alttestamentliche als Vorstufe zu der des Neuen Testaments (5. Mos. 14, 1; 32, 6).
(7) die herrliche, gnadenreiche Nähe Gottes (Theodoretus).
(8) Den Gott zu verschiedenen Zeiten erneuerte ,daher im Griech.: die Bünde.
(9) Die gottesdienstlichen Gebräuche, die wie alles Andere schon auf Christus deuteten.
(10) Von Christo.
(11) Die Abraham, Isaak, Jakob und die Übrigen, die Gott seines Umganges würdigte, zu Vätern haben.
(12) Der leiblichen Abstammung nach (Matth. 1, Luk. 3).
(13) der nicht bloß Mensch, sondern zugleich über Alles erhabener, ewig zu preisender Gott ist. Die Lehre von der Gottheit Christi berührt Paulus auch Tit. 1, 3; 1. Kor. 15, 27; 1. Tim. 3, 15; 1. Kor. 10, 9; Apostelg. 20, 28.
(14) Aber mit dieser Klage über die Verwerfung eines großen Teiles des israelitischen Volkes ist nicht gesagt, als ob die Verheißung, dass Israel des messianischen Segens teilhaftig werde, vereitelt würde; die Verheißung bleibt für die wahren (geistigen) Israeliten und Kinder Gottes unverändert, die Gott dazu bestimmt und auserwählt hat (Vers 6 bis 9).
(15) noch sind Alle – echte (geistige) Kinder Abrahams, Geistesverwandte des Erzvaters (oben 4, 11 u. 12; Joh. 8, 39).
(16) 1. Mos. 21, 12.
(17) In Isaak und seinen Kindern soll deine (geistige) Nachkommenschaft sein, jene Nachkommenschaft, mit der ich meinen Bund schließen werde. Genannt werden statt „sein“ (Matth. 1, 23).
(18) Nicht die fleischlich von Abraham abstammen, sind seine und Gottes Kinder, sondern die vermöge der Verheißung (1. Mos. 18, 10) entstanden sind. Mit andern Worten sagt Johannes: Die nicht aus dem Willen des Mannes, sondern Gottes, entsprungen sind (1, 13). Ismael (1. Mos. 16) und die Söhne der Cetura (1. Mos. 25) waren Abrahams Söhne dem Fleische nach; Isaak war das Kind der Verheißung, das aus dem Willen Gottes auf übernatürliche Weise gekommen war (1. Mos. 18, 10ff). Die Anwendung auf die Berufung zum Evangelium ist leicht gemacht. Auch diese geht nicht von äußeren Verhältnissen, sondern von dem Willen Gottes aus, der seine Gnade aus freier Machtvollkommenheit anbietet, so dass es bloß der Annahme von Seite des Menschen bedarf (Orig., Theophyl. Ambros.). Dass der reine Wille Gottes es ist, welcher zum Reich Gottes beruft, zeigt der Apostel noch anschaulicher in der Auserwählung des Jakobs vor dem Esau.
(19) Mit Sara.
(20) Zwei Söhne, Esau und Jakob. Im Griech.: welche von Einem, von Isaak, unserm Vater, empfangen hatte.
(21) Sinn der Verse 10-13: Wie es sich mit Sara und ihrem Sohn Isaak verhält, der durch den freien Willen Gottes jenes Kind Abrahams wurde, womit Gott seinen Bund erneuern wollte: so auch mit Rebekka und ihrem Sohn Jakob. Rebekka hatte zwei Knäblein von Isaak empfangen. Von diesen kann man nicht sagen, dass Jakob, um Bundeskind zu werden, vor Esau den Vorzug verdient habe; denn Beide waren von Einem Vater zu gleicher Zeit empfangen worden, und gute Werke konnte Jakob vor seiner Geburt eben so wenig wirken, als Esau böse. Wenn von Vorzug die Rede ist, müsste man ihn eher dem Esau zugestehen, da er der Erstgeborene war (1. Mos. 25, 24 bis 26). Nichts desto weniger ward der Mutter gesagt, dass der Jüngere vor dem Älteren den Vorzug habe, und ähnlicher Weise drückt sich auch der Prophet aus (Malach. 1, 2), damit man daraus erkenne, dass keine äußeren Umstände, weder Geburt, noch vorher gehende gute Werke, Anspruch geben können, Mitglied des Reiches Gottes zu werden, sondern nur die freie Wahl, der reine Wille Gottes, des Rufenden. –

Die der Rebekka gegebene Weissagung (1. Mos. 25, 23) bezieht sich zunächst auf den Vorzug Jakobs, Bundeskind zu werden, zugleich aber auf die nachmalige Herrschaft der Nachkommen Jakobs über die des Esau (2. Kön. 8, 14; 4. Kön. 14, 22; 2. Mach. 15). Die Stelle aus Malachias geht ebenfalls auf den Zustand der Nachkommen, indem der Prophet die Unfälle der Edomiten (Nachkommen Esaus) im Sinne hat, und daraus auf die größere Liebe schließt, die Gott zu den nachkommen Jakobs hat. Hassen faßt er im Sinne von „minder lieben“ wie 1. Mos. 29, 31; Matth. 6, 24; Luk. 14, 26.

Man hüte sich übrigens, mehr aus diesem geschichtlichen Beispiel zu folgern, als der Apostel damit beabsichtigt. Wie bei Gleichnissen gewöhnlich nicht alle Züge derselben streng und erschöpfend auf die verglichenen Gegenstände übertragen werden dürfen, so auch hier. Wenn nämlich Paulus die Wahl des Jakob vor Esau zum Bundeskind als Beispiel gebraucht, um die Wahl oder den Ruf zum Christentum zu versinnlichen, so will er damit nicht sagen, dass Einige, gleich Esau, nicht gerufen werden, etwa die Juden nicht, vielmehr werden Alle gerufen (unten 10, 12); auch nicht, dass bei diesem Ruf, um Wirksamkeit zu haben, kein Entgegenkommen des Menschen gefordert werde, wie Jakob im Mutterleib nichts zu seiner Bestimmung tun konnte, vielmehr sagte er, dass die Juden ihres Berufes verlustig gehen, weil sie nicht glauben (unten Vers 30ff): sondern das Beispiel soll nur sinnbildlich zeigen, dass der freie Wille Gottes, seine freie Gnade, die erste Ursache jedes auch wirksamen Rufes seien, und dass keinerlei äußere Verhältnisse, seien es Geburt oder vorher gehende gute Werke, ein Recht darauf begründen. –
aus: Joseph Franz Allioli, Die Heilige Schrift des alten und neuen Testamentes. Aus der Vulgata, 6. Bd. 1838, S. 49 – S. 52