Der Römerbrief Kap. 2 Vers 12-16

Ernste Mahnung des hl. Paulus an die Juden

Die sittliche Leistung des Menschen ist durch die Erkenntnis des göttlichen Willens, der Norm aller Sittlichkeit, bedingt. Darum wird auch die Leistung, sei sie ein gutes oder schlechtes Werk, nach dem Maß der Erkenntnis von Gott beurteilt. Wenn ein Heide „ohne Gesetz“, d. i. ohne Kenntnis des am Sinai geoffenbarten Gesetzes, eine Sünde, etwa der Unzucht, begeht, dann wird er gerichtet und bestraft, weil er gegen die sittliche Naturordnung gefrevelt hat, nicht aber, weil diese Sünde im Sinaigesetz unter Androhung schwerer Strafen von Gott verboten ist.

Wenn aber ein Jude oder Christ den gleichen Frevel begeht, dann wird er nicht nur bestraft, weil er die sittliche Ordnung verletzt, sondern auch ein positives göttliches Gebot übertreten hat. Denn Gegenstand des göttlichen Gerichtes ist nur die Sünde. Ob sie mit oder ohne Gesetz begangen wurde, ist für die Beurteilung nicht wesentlich. Um vor Gott gerecht zu sein, genügt es darum auch nicht, dass man sein Gesetz besitzt, dass es beim Gottesdienst vorgelesen und erklärt wird. Nur der wird von Gott gerecht befunden, der das Gesetz beobachtet, sei er nun Heide oder Jude oder Christ.

Das Wort, dass nicht die Hörer des Gesetzes gerecht sind, sondern nur die Beobachter von Gott für gerecht befunden werden, gilt auch für die Heiden. Obwohl sie „kein Gesetz haben“, d. i. kein von Gott ausdrücklich geoffenbartes und in Urkunden nieder gelegtes Gesetz kennen, erfüllen sie, wenigstens die Gutgesinnten unter ihnen, dennoch die Vorschriften dieses Gesetzes. Es ist ja eine religionsgeschichtliche Tatsache, dass auch sie die Gottesverehrung, die Pietät gegen die Eltern, den Gehorsam gegen die Obrigkeit, die Achtung vor dem Leben, dem Eigentum und der Ehre des Mitmenschen und die Wahrhaftigkeit als sittliche Pflicht anerkennen, deren Verletzung den Zorn ihrer Götter reizt. Ihre eigenen Schriftsteller verurteilen die Unzucht als schlimmes Laster, selbst wenn die Masse des Volkes sich ihm hemmungslos hingibt. Alle diese Pflichten werden von ihnen mit ihrer natürlichen Erkenntniskraft als unantastbare Forderungen anerkannt und „von Natur aus“, mit ihrer rein natürlichen Willenskraft erfüllt. Die Heiden müssen also – wie Paulus sich ausdrückt – sich selbst Gesetz sein; es muss in ihnen ein ungeschriebenes Gesetz als absolute Norm ihres sittlichen Lebens sein. Wie sollte man sonst erklären, dass sie die sittlichen Vorschriften des Dekalogs, das göttliche Gesetz, erfüllen, obwohl sie davon keine Kenntnis haben?

Für das Vorhandensein einer ungeschriebenen sittlichen Norm spricht auch das Gewissen, das nach Thomas die Anwendung der natürlichen Erkenntnis auf die Verurteilung eines konkreten Werkes ist, ob es gut oder schlecht getan wurde. Das Urteil, ob etwas sittlich gut oder schlecht ist, setzt einen Maßstab voraus, der von den einzelnen Menschen als ein über ihm stehendes Gesetz anerkannt wird. Dass auch in der Seele eines Heiden das Gewissen die Funktion eines Anklägers oder Verteidigers und Richters ausübt, läßt sich aus den Geständnissen der verschiedensten Vertreter des Heidentums schließen.

Es wird einmal am Tag des Jüngsten Gerichtes, an dem selbst die verborgensten Absichten des menschlichen Herzens enthüllt werden, auch dies offenbar, dass der Heide gut wie der Jude und der Christ in sich vor der Tat die vom Bösen abmahnende und zum Guten antreibende Stimme des Gewissens vernahm und nach der Tat durch Selbstvorwürfe oder durch innere Zustimmung sich selbst das Urteil sprach. Ob er seinem Gewissen folgte oder nicht, danach wird der Heide einst, und zwar von Christus, gerichtet werden. Denn vor ihm, dem der Vater das ganze Gericht übergeben hat, müssen alle Menschen, Juden und Heiden erscheinen. Das ist das Evangelium des Apostels, die Lehre, die er als göttliche Offenbarung verkündet. Darin liegt unausgesprochen eine ernste Mahnung an die Juden, den nicht zu verwerfen, der ihnen einst als Richter entgegen treten wird. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIV, 1937, S. 23 – S. 24