Der Römerbrief des heiligen Apostels Paulus 2. Kapitel Vers 4-11

Der Hochmut und Starrsinn der Juden

Paulus spricht ganz allgemein, seine Worte haben für alle Zeiten Gültigkeit; sie sind auch für uns Christen geschrieben. Dennoch hatte er hier besonders die Juden seiner Zeit im Auge. Während Gott die Heiden seinen strafenden Arm fühlen ließ, wollte er alle Treulosigkeiten des jüdischen Volkes, ja selbst die Ablehnung des Messias ertragen; er wollte Israel trotz des bis zur Verblendung gesteigerten Hochmutes die Möglichkeit der Umkehr nicht rauben. Aber die Juden verkannten die Absichten des Herrn und sahen in Gottes Schweigen nur eine Bestätigung ihrer falschen Meinung, dass sie als Kinder Abrahams gegen eine Verurteilung gesichert und ihres Heiles ganz gewiß seien. Dass eine solche Auffassung unter den Juden wirklich herrschte, bestätigt das Wort des Täufers an die Pharisäer: „Wer hat euch gelehrt, ihr würdet dem kommenden Zorngericht entrinnen? So bringt denn würdige Früchte der Buße und verlaßt euch nicht auf eure Aussage: Wir haben Abraham zum Vater“ (Matth. 3, 7ff). Sie kommt auch im Talmud, so im Mischnatraktat Sanhedrin (11, 1) in dem Satz zum Ausdruck: „Ganz Israel hat Anteil an der zukünftigen Welt.“ Eine derartige Misskennung der göttlichen Güte verbaut den Weg zur wahren Erkenntnis der Schuld und der Notwendigkeit von Buße und Bekehrung. So musste es naturgemäß dazu kommen, dass die Juden einer Erlösung und Wiederbegnadigung durch Christus gar kein Verständnis entgegen brachten.

Solcher Starrsinn, wie er uns im jüdischen Volk gegenüber tritt, muss schließlich den Zorn Gottes, sein Gericht heraus fordern. Hat der Herr auch lange Zeit zur Sünde geschwiegen, so ist deswegen weder die Schuld vergessen noch die Strafe erlassen. Vielmehr sind Schuld und Strafe nur in der Ewigkeit angesammelt, bis das Maß der göttlichen Geduld erschöpft ist und die Strafe sich zu einer ungeheuren Summe angehäuft hat. Wie furchtbar wird das Erwachen aus dem Zustand der Selbsttäuschung am „Tag des Zornes“ sein, am Tag des besonderen und allgemeinen Gerichts, an dem Gottes Zorn, durch keine Geduld mehr gehemmt, über den unbußfertigen Sünder, der an seine Schuld nicht glauben wollte, wie ein glühender Lavastrom sich ergießt.

Das wird ein „Tag der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes“. Denn an diesem Tag wird es aller Welt offenbar, dass Gott gerecht ist und ein gerechtes Gericht über jene ergeht, deren Frevel er mit einer für uns oft unbegreiflichen Nachsicht ertrug. Kein Sünder kann sich dem entscheidenden Gericht entziehen, wer er auch immer sei. Denn Gott nimmt, wie die Heilige Schrift des Alten Testamentes auf vielen Blättern bezeugt, keine Rücksicht auf die Person, die gesündigt hat, auf ihre soziale Stellung oder Bildung, nicht auf ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation oder Rasse, nicht einmal auf ihre Zugehörigkeit zur wahren Kirche. Sein Urteil wird einzig und allein durch die sittliche Qualität des Menschen bestimmt, ob nämlich das Leben dem Willen Gottes entsprach oder nicht.

Am Gerichtstag gibt es nur noch zwei Gruppen von Menschen: Gerechte und Sünder. Auf der einen Seite des Richters werden alle stehen, „die in beharrlicher Übung des Guten nach Herrlichkeit, Ehre und Unvergänglichkeit trachten“, die stets das letzte und höchste Ziel des Menschen, Gott und die himmlische Seligkeit, im Auge gehabt haben, die nicht einzig nach irdischen Gütern strebten, sondern vor allem nach der Ehre und Herrlichkeit der Kinder Gottes und nach dem unvergänglichen Erbe in der himmlischen Gemeinschaft mit Christus. Wer dieses erhabene Ziel nicht nur ersehnt, sondern in beharrlicher Arbeit an sich selbst, in treuer Erfüllung des göttlichen Willens um dieses Ziel ringt, dem wird mit dem ewigen Leben in und bei Gott vergolten. Auf der anderen Seite des Richters werden alle stehen, „die aus Eigensinn und ungehorsam der Wahrheit sich der Ungerechtigkeit hingaben“. Es sind jene, die Gottes Gesetz und seine Wahrheit gekannt, aber hochmütig sich darüber hinweg gesetzt hatten, die nach ihrem eigenen Sinn und aus eigener Kraft, nicht durch die göttliche Gnade, das Heil erlangen wollten. Diese erfahren Gottes Grimm.

Ob der Wichtigkeit dieses Urteils wiederholt der Apostel nochmals die beiden Sätze mit einer gewissen Feierlichkeit und in umgekehrter Ordnung, um sie auf das Verhältnis zwischen Juden und Heiden anzuwenden. Die Trübsal und Angst jenes Gerichtstages kommt über jede Menschenseele, die mit Sünden belastet vor dem Richter erscheinen muss. Auch der Jude, der sich seines Heiles sicher glaubt, ist davon nicht ausgenommen. Im Gegenteil. Weil der Herr ihm eine höhere Erkenntnis der Wahrheit ermöglichte und ihm im Leben reichere Gaben als dem Heiden angeboten hat, trifft ihn ein strengeres Gericht. Denn die Strafbarkeit einer Handlung ist um so größer, je klarer die Erkenntnis und je größer die angebotene, aber zurückgewiesene Gnade war. Anderseits hat ein gesetzestreuer Jude einen höheren Lohn als der Heide, der nur das natürliche Sittengesetz erfüllt, zu erwarten, weil der geoffenbarte Wille Gottes weit höhere Anforderungen an den gehorsam und den Opferwillen stellt und darum auch eine größere Liebe zu Gott voraus setzt.
Dies gilt in erhöhtem Maß von dem Christen. Der Anspruch auf reicheren Lohn beruht aber nicht auf der äußeren Zugehörigkeit zum Volk Gottes oder zur Kirche, sondern nur auf dem größeren Wert der Leistung. Nochmals betont der Apostel, dass bei Gott alle Parteinahme für das jüdische Volk ausgeschlossen ist. Mit einer Klarheit, die jedes Missverständnis ausschließen sollte, lehrt er, dass beim Gericht Gottes, das über die Ewigkeit entscheidet, nicht die äußere Zugehörigkeit zur wahren Kirche des Alten oder Neuen Bundes, nicht der Glaube allein ausschlaggebend ist, dass vielmehr der Mensch nach seinen Werken gerichtet wird, wie es auch Christus selbst in seiner Gerichtsrede gelehrt hat. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIV, 1937, S. 21 – S. 23