Gelegenheiten der Liebe

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Das Königliche Gebot

Gelegenheiten der Liebe „Was sollen wir tun?“ (Joh. 6, 28)

Mit erdrückender Eindeutigkeit schreibt der Apostel Jakobus (4, 17): „Wer Gutes tun kann, es aber nicht tut, dem ist es Sünde.“ Aber die Findigkeit der Trägen entdeckt auch in diesem Wort noch eine Silbe, mit der sie sich zu trösten weiß. Heißt es nicht: „Wer Gutes tun kann“? „Nun wohl“, sagt der Träge, „ich kann nicht. Was soll ich tun? Mir fehlt die Gelegenheit. Ich bin nicht reich genug, um größere Almosen zu geben: ich bin kein Wundertäter, um Kranke heilen zu können; ich bin nicht gesund genug, um anderen zu dienen; mir fehlt die Gelegenheit, Liebe zu üben; ich bin arm, krank, einsam…“

Allein, du Kleinmütiger, Kurzsichtiger, ist es wirklich so? Sollte der Schöpfer wirklich einem Menschen so gar keine Gelegenheit zur Liebe gegeben haben? Sollte es auf Erden auch nur ein einziges Kind und Ebenbild Gottes, der ewigen Liebe, geben, dem es verwehrt ist, Liebe zu üben? Das Leben, das uns die ewige Liebe gab, wird doch wohl auch selber eine Gelegenheit zur Liebe sein. Ja, so ist es; eine Gelegenheit zur Liebe zu sein ist sogar der köstlichste, zarteste Reichtum eines jeden Menschenlebens. Und zwar bricht auch nicht ein Tag in unserm Leben an, an dem nicht, gleich dem Morgenstern, eine solche Gelegenheit uns erwartet – möge der Abendstern eines jeden Tages die benützte Gelegenheit sein. An jedem Morgen können wir uns niederknien und sagen: Mein Vater im Himmel, ich danke dir für den neuen Tag, – für diese neue Gelegenheit zu einem liebevollen Werk! Dieser Dank soll dann aber auch zum guten und ernsten Vorsatz werden, auf daß nicht ein Mann wie Nietzsche uns und unser Morgengebet beschäme mit seinem Rat: „Das beste Mittel jeden Tag zu beginnen ist, beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einen Menschen an diesem Tage Freude machen könnte. Wenn dies als Ersatz für die religiöse Gewohnheit des Gebetes gelten dürfte, so hätten die Mitmenschen einen Vorteil bei dieser Änderung.“

Aber, so wendet man vielleicht ein, bleiben wir nur bei der rauhen, nüchternen Wirklichkeit! Sehen wir uns die wirklichen Verhältnisse an, in denen mancher lebt! Ja, sehen wir sie uns nur genau an, und wir werden gerade erst recht finden, wie tatsächlich ein jeder Mensch Gelegenheit und Möglichkeit hat, täglich einem andern Gutes zu tun. „Dürfte ich“, so schrieb ein junges Mädchen einmal in ihr Tagebuch, „so würde ich Gott fragen: Was tue ich? was soll ich tun? ich weiß es nicht! … meine Tage fließen nutzlos dahin und ich trauere ihnen nicht nach. Könnte ich nur während einer Minute des Tages mir oder jemand anderm etwas Gutes tun!“ Einige Tage später aber las sie in einer ruhigen Minute diese Zeilen wieder durch und schrieb darunter: „O mein Gott, was ist leichter? ich brauche ja nur ein Glas Wasser einem Durstigen geben!“ (Holnstein, „Goldkörner“.)

Jeder Tag ist dir eine Gelegenheit zur Liebe – auch wenn du arm bist. So arm ist niemand, daß er nicht jeden Tag diesen Reichtum hätte, wenn auch nicht mit Gold und Silber, so doch mit einem guten Wort, einem kleinen Dienst, einer kleinen Freundlichkeit, an andern Liebe zu üben. Jeder Tag ist dir eine Gelegenheit zur Liebe – auch wenn du einsam bist. So einsam ist niemand, daß nicht wenigstens einmal im Tage ein andres Menschenkind mit ihm zusammen träfe. Niemand aber, so sagt ein Geistesmann, kommt uns nahe oder entgegen, es sei denn, Gott habe dabei die Absicht, daß wir ihm helfen, ihn besänftigen oder erfreuen mögen.

Jeder Tag ist dir eine Gelegenheit zur Liebe – auch wenn du krank bist. Wieviel Liebe hat etwa eine Frau wie Emmy Giehrl, die 50 Jahre krank gewesen, vom Krankenbett aus erwiesen! Du kannst eine zufriedene Miene machen, kannst ein Wort des Dankes und Anerkennung sprechen, eine Klage unterdrücken, eine Belästigung der andern vermeiden. Der Kranke kann nicht nur viel Liebe ernten, sondern auch wieder Liebe säen.

Jeder Tag ist eine Gelegenheit zur Liebe. Und wenn wirklich einmal einer vergangen wäre, der gar keine Gelegenheit geboten hätte, dann würde uns vor ihm fast wie vor etwas Unerlöstem grauen, und mit Gewalt müsste man ihm eine solche Gelegenheit entreißen, indem man noch seine letzte Minute benützt, um wenigstens für irgend einen Menschen zu beten.

Nur ein Tag ist keine Gelegenheit zur Liebe – die dies irae, der Tag der Ewigkeit – oder vielmehr die Nacht der Ewigkeit, „wo niemand mehr wirken kann“. (Joh. 9, 4) Wer die Gelegenheiten zur Liebe im kurzen Erdenleben nicht benützt, dem wird auch die lange Ewigkeit keine Gelegenheit mehr bieten. Das ist auch ein Stück jener erschütternden Armut der Verdammten, daß sie keine Gelegenheit mehr zur Liebe haben. Wenn der Baum gefällt ist, dann ist die Möglichkeit, Blätter zu treiben, mit Blüten das Herz zu erfreuen und Früchte zu tragen, für immer vorüber.

Ein Teilchen jener ewigen Verzweiflung kann man aber auch schon auf Erden erleben. Wenn auch die Gelegenheiten zur Liebe im allgemeinen bis zu unserm letzten Atemzug uns angeboten werden, so geschieht das doch nicht mit jeder einzelnen Gelegenheit. Jeder Mensch zum Beispiel, der mit uns zusammen lebt, Verwandte und Arbeitsgenossen, Dienstboten und Freunde, sind eine solche Gelegenheit. „Dem Menschen aber ist es gesetzt zu sterben.“ (Hebr. 9, 27) Wie traurig ist ein Grab im Friedhof draußen oder ein Sarg in der Kammer, wenn er nicht nur einen lieben toten Menschen, sondern mit ihm auch eine herrliche, aber unbenützt gebliebene Gelegenheit zur Liebe umschließt. Als eines berühmten Mannes (Carlyle) Gattin gestorben war, da eilte er herbei, kniete sich nieder und küsste sie auf die kalte Stirn und, was ihn dabei am meisten bewegte, das lesen wir in seinen Aufzeichnungen: „Ach, sie hat nie ganz erfahren … wie sehr ich sie zu allen Zeiten hoch geschätzt, geliebt, bewundert habe … O, daß ich nur noch fünf Minuten hätte, um dir alles zu sagen!“

Bei einem modernen Dichter steht aber der Satz: „Immer ist es so und an jedem Sterbebett fühlen wir es, daß wir mehr Liebe hätten erweisen können.“

So lasst uns denn heute Abend etwa, wenn in unserm Haus alles schläft, durch die Kammern gehen und denken, die da schlafen, seien tot. Welche Vorwürfe hätte wir uns dann wohl zu machen, Vorwürfe über ungeschehene Taten, unerwiesene Dienste, ungesprochene Worte, nicht betätigte Liebe! Doch nein, noch ist dieser und jener nicht tot; noch können wir sie lieben. – Was sollen wir nur tun, um ihnen die Liebe zu beweisen? Die Antwort auf diese Frage lasst uns morgen schon erfüllen. Wirket, solange ihr das Licht habt! „Wenn ihr wohltun könnt, so verschiebt es nicht!“ (St. Polykarp.) –
aus: Bonifaz Wöhrmüller OSB, Das königliche Gebot, 1929, S. 35 – S. 38

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