Der Römerbrief Kap. 2 Vers 1-4
Die unehrliche Entrüstung über fremde Vergehen
Als Paulus schrieb, gab es nur Heiden und Juden, aus denen sich die junge Kirche ergänzte. Er hatte gezeigt, dass die Heiden, in ihrer Gesamtheit genommen, dem Zorn Gottes verfallen sind und nur durchs eine Gnade erlöst und vor dem ewigen Verderben bewahrt werden können. Für sie ist Christus und sein Heilswerk eine unumgängliche Notwendigkeit. Wie steht es aber mit den Juden? Sind auch sie dem Gericht verfallen? Oder gibt ihnen ihr Bundesverhältnis zu Gott einen Rechtsanspruch auf die ewige Seligkeit, so dass sie einer Erlösung von Schuld und Sünde nicht bedürfen? Gar viele bejahten es und redeten sich ein, als Kinder Abrahams nie verloren gehen zu können.
Voll Verachtung schauten solche Juden auf die Heiden herab, geißelten ihre Laster und hielten sich von jeder Berührung mit ihnen fern, um sich nicht zu verunreinigen. Menschen dieser Art sind schwer zu überzeugen, dass auch sie in Schuld verstrickt und ohne Erlösung unrettbar dem Zorn Gottes verfallen sind.
Der Apostel redet zunächst ganz allgemein einen Menschen an, der über die schweren Verfehlungen anderer sich sittlich entrüstet, aber kein Bedenken trägt, die gleichen oder ähnliche Sünden zu begehen. Ist der Heide unentschuldbar vor Gott, dann hat ein solcher, der sich zum Richter über ihn aufwirft, sich damit selbst das Urteil gesprochen, weil er mit klarer Erkenntnis böse handelt und darum noch weniger als ein Heide auf die Gnade des Richters rechnen kann.
Diese Schlussfolgerung, die der Apostel am Anfang des neuen Abschnittes zieht, ist so zwingend, dass niemand sich ihr zu entziehen vermag. Es ist ja eine allgemein bekannte und unfehlbar sichere Glaubenswahrheit, dass der allwissende und gerechte Gott durch eine unehrliche Entrüstung über fremde Vergehen weder getäuscht, noch überhaupt in seinem Richten beeinflußt wird. Sein Urteil ergeht über solche Heuchler „der Wahrheit gemäß“, d. i. nachdem wirklichen Tatbestand, nicht nach dem äußeren Schein, und mit unbeirrbarer Sachlichkeit, wie es eben die Wahrheit und Gerechtigkeit verlangt. Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, wenn einer glauben wollte, der Verurteilung seiner eigenen Vergehen dadurch sich entziehen zu können, dass er in der Verdammung fremder Verfehlungen auf die Seite des göttlichen Richters tritt. Ein solcher wird nicht nur in dem gleichen Maß dem Gericht des Herrn verfallen wie jene, über die er sich entrüstet, es wird seiner vielmehr ein weit strengeres Gericht harren, weil seine Schuld weit größer ist. Denn erschwerend ist die bessere Einsicht und die in seinem Verhalten liegende Verkennung und Missachtung der Güte, Geduld und Langmut Gottes, die ihn zur Buße ruft.
Wenn der Herr zu den Missetaten eines Menschen jahre- und jahrzehntelang schweigt, während andere seinen gerechten Zorn fühlen müssen, so folgt daraus keineswegs, dass er die Schuld geflissentlich übersieht und mit ungleichem Maß misst. Es entspräche allerdings der Ungeheuerlichkeit, die in jeder schweren Sünde liegt, wenn Gott den Frevler alsbald nach begangener Tat vor seinen Richterstuhl zur Verantwortung ziehen würde. Denn wer trotz klarer Erkenntnis des Bösen und trotz der Möglichkeit, sich frei für das Gute zu entscheiden, das Gebot des Herrn übertritt, hat keinen Anspruch, dass ihm Zeit zur Buße gelassen wird. Zögert darum Gott mit dem Vollzug der Strafe, bietet er weiter seine helfende Gnade an, und wartet er in Geduld, ob der Sünder sich bekehrt, so geschieht dies aus ganz freiem und ganz unverdientem Erbarmen. Wie reich Gottes Güte gegen den Frevler ist, wie unendlich seine Geduld und wie groß seine Langmut, dass er Menschen, die bewußt sich nicht nur einmal, sondern zehnmal und hundertmal gegen seinen Willen aufgelehnt haben, oft lange, sehr lange erträgt, um sie nicht verderben zu müssen, vermöchte nur der einzusehen, der Gottes Größe und aus ihr das Gottwidrige der Sünde auszumessen imstande ist. Wie furchtbar also verkennt der die liebevollen Absichten des Herrn, der dessen Schweigen, das Zurückhalten des gerechten Zornes zu Gunsten seines Lasterlebens deutet und darum gar nicht sehen will, dass diese Güte ihn vor dem Sturz in den Abgrund der ewigen Hölle bewahren möchte. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIV, 1937, S. 19 – S. 21