Apokalypse – Die zwei Tiere
Die zwei Tiere. Kap. 13 Vers 10. Wen das Tier aus dem Meer darstellt
Mit Absicht beschränkte sich unsere Erklärung der Vision vom Tier aus dem Meer bisher auf das, was der Text zunächst besagt. Nun aber erhebt sich für das Verständnis des Ganzen wie der wichtigsten Einzelheiten unumgängliche Frage: Was bedeutet dieses Tier, wen stellt es dar? Ist es eine bloße Allegorie, oder verkörpert sich in ihm symbolhaft ein bestimmtes, persönliches Wesen? Die lange Skala der Deutungsversuche von den Väterzeiten her bis in die Gegenwart kann hier nicht besprochen werden…
Die unleugbare Anlehnung des Sehers an die Tiervision Daniels darf auch bei der Frage, wen das Tier aus dem Meer darstellt, nicht außer Betracht gelassen werden. Nun deutet aber Daniel die vier Tiere auf die großen heidnischen, also dem wahren Gott feindlichen Weltreiche: der Löwe versinnbildet Babylon, der Bär Medien, der Panther Persien. Das vierte und schrecklichste Tier stellt das griechisch-syrische Weltreich Alexanders und seiner Diadochen dar; in dem kleinen Horn dieses Tieres erscheint Israels schlimmster Feind und Bedrücker Antiochus IV. Epiphanes. Weil nun in der spät-jüdischen rabbinischen Literatur dieses vierte Tier der Daniel`schen Vision auf das römische Weltreich bezogen wurde und weil Johannes die Attribute der vier Tiergestalten in dem einen Tier vereinigt, das aus dem Meer herauf steigt, so ist es üblich geworden, in diesem Tier eine Darstellung des römischen Weltreiches zur Zeit des Apokalyptikers zu sehen. Diese Auffassung scheint aber verkehrt zu sein. Gewiß hätte der letzte Apostel mancherlei Gründe gehabt, in Rom, das allen Göttern Heimatrechte gab, nur dem Gott der Christen nicht, das die Christen verfolgte und seine Kaiser vergötterte, ein Werkzeug des Satans zu erblicken. Die blutigen Verfolgungen vermochten indes die Gewissenhaftigkeit und Treue der Christen gegenüber der staatlichen Obrigkeit nicht zu erschüttern. In der Mahnung zur Geduld und zum Glauben (13, 10) wirkt immer noch die gleiche innere Haltung gegenüber der Autorität nach, wie sie Paulus und Petrus nach dem Vorbild Christi (Matth. 2, 21 u. Parall.) von den Christen gefordert hatten (Röm. 13, 1ff.; Tit. 3, 1; 1. Petr. 2, 13f.). Daß Johannes darüber nicht anders dachte, beweist das von ihm überlieferte Gespräch zwischen Christus und Pilatus (Joh. 19, 11).
Auf das heidnische Römerreich scheinen außerdem viele Einzelheiten der Vision zu passen. Von Kleinasien her gesehen, war die italienische Halbinsel wie aus dem Meer aufgetaucht. Die Zusammensetzung des Reiches aus den heterogenen Völkermassen entspräche dem Aussehen des Tieres. Die sieben Köpfe wären auf die römischen Kaiser zu beziehen. Besonders für die gotteslästerlichen Namen ließe sich das Gegenbild in den Titeln finden, mit denen die Cäsaren ihre Göttlichkeit dartun wollten. Nicht nur die Titel „Divus Augustus“, der „Göttlich Erhabene“ und „Kyrios“ gehören dazu, sondern noch anspruchsvollere wie „Gott“, „Gottes Sohn“, „Erlöser“, „Unser Herr und Gott“. Darin mussten die Christen teuflischen Hochmut bei den Herrschern und Götzendienst bei ihren Untertanen sehen. Bedenklich aber wird die Beziehung des tödlich verwundeten und neu belebten Kopfes des Tieres auf Nero. Daß der inspirierte Seher den Sagen vom Weiterleben und Wiederkommen dieses wahnsinnigen Tyrannen Glauben geschenkt und sie im Bild der Todeswunde in die Vision einbezogen habe, ist mehr als unwahrscheinlich. Gegen die Gleichsetzung des Tieres mit dem Römerreich spricht aber vor allem, daß man nicht ein Reich, sondern einen Herrscher auf den Thron erhebt, wie es der Drache mit dem Tier tut. Auch läßt sich nicht ein Reich anbeten, sondern nur eine Persönlichkeit, und nur eine solche kann großspurige und lästerliche Reden führen und ein Reich begründen.
Daraus folgt, daß in dem Tier aus dem Meer weder das römische noch ein anderes Gott feindliches Weltreich dargestellt ist, sondern ein Herrscher der Endzeit, der mit einer bis dahin noch nicht da gewesenen Macht und Brutalität den Kampf gegen „die Nachkommenschaft der Frau“, also gegen die Christen, führt und zum Begründer eines alle Völker der Erde umspannenden Reiches wird, worin jede Äußerung der Gottesverehrung unterdrückt, dem Herrscher selbst aber göttliche Ehre erwiesen wird. Dann erfüllt sich die Voraussage Christi: „Man wird euch der Drangsal ausliefern und euch töten, und ihr werdet um meines Namens willen von allen Völkern gehaßt werden“ (Matth. 24, 9). Da nun der Satan selbst diesem Herrscher seine Gewalt überträgt und ihn auf seinen Thron erhebt, da ferner in dem Bild des Tieres eine bewußte Karikatur Christi gegeben ist, so ist es der Antichrist, der in ihm erscheint. Antichrist bedeutet ja nicht bloß Gegner, Feind Christi, sondern auch Gegenbild, Nachäffung Christi. Ehe der eigentliche Antichrist wie ein inkarnierter Satan und doch nicht Satan selbst vor dem Ende der Zeiten auftritt und die Herrschaft auf Erden an sich reißt, sind ihm viele Antichriste voraus gegangen, gleichsam seine Vorläufer als Widersacher Christi. Darum kann Johannes von vielen Antichristen, aber auch von dem einen Antichrist sprechen (1. Joh. 2, 18 u. 22; 4, 3; 2. Joh. 7). (siehe: Die Antichristen in der Heiligen Schrift) Wie herrlich aber erscheinen die Gestalt und das Wirken des wahren Christus, wenn sogar der Antichrist nur dadurch etwas gegen ihn ausrichten vermag, daß er sich mit Christus-Ähnlichkeit umgibt, um so die Menschheit an sich zu ziehen! –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI.2, 1942, S. 196 – S. 198
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