Anforderung der Vernunft hinsichtlich des kirchlichen Lehramtes
Die Vernunft erwartet Unfehlbarkeit der Kirche und des Lehramtes
„Was erwartet die gläubige Vernunft von Christus hinsichtlich des Lehramtes?“
Wir antworten erstlich: Sie erwartet, daß Christus in seiner Kirche ein Lehramt eingesetzt. Die Ursache liegt darin, weil das Wesen der Sendung Christi auf Erden nicht darin bestand, die gefallene Menschheit mit Gott wieder zu versöhnen, sondern dieselbe auch zu belehren, auf dass der Mensch den hl. Willen Gottes erkenne, denselben erfülle, und selig werde. Da nun aber Christus nicht persönlich auf Erden verweilen wollte, und anderseits nicht jedem Einzelnen eine Offenbarung dessen, was er lehrte, zusicherte: so war es notwendig, dass er ein dazu befugtes Lehramt in seiner Kirche eingesetzt.
Die Vernunft verlangt für die Beglaubigung einer Wahrheit eine Autorität
Die Vernunft erwartet zweitens, dass Christus, dieses Lehramt mit der Gabe der Unfehlbarkeit ausgerüstet habe. Die Vernunft nämlich verlangt für die Beglaubigung einer Wahrheit eine vollkommen genügende Autorität. Wir sagen Autorität; denn die Wahrheit ist nicht etwas von der Vernunft „Erfundenes“, sondern „Vernommmenes“, etwas objektiv „Gegebenes“. Die Ableitung des Wortes Vernunft von Vernehmen in unserer oft so philosophischen deutschen Sprache, weist selbst auf diesen Charakter der Wahrheit.
In natürlicher Sphäre genügt die Vernunft das Zeugnis der Evidenz ihrer eigenen Denkkraft, wurzelnd in den archäologischen Kategorien des menschlichen Wissens, und vereinigt mit dem Zeugnis der Erfahrung, sei es durch eigene oder fremde Wahrnehmung. Auch diese prinzipiellen Denkgrundsätze und die äußere Autorität auf Erfahrung gegründet, machen auf unfehlbare Gewissheit Anspruch. Wer wirklich nach den Grundprinzipien des Denkens der menschlichen Vernunft folgerecht denkt, der denkt unfehlbar vernünftig recht. Allerdings folgt daraus nicht, dass jeder Mensch weil er Vernunft hat, deshalb auch durchweg unfehlbar in allem seinem Denken sei, da ein beschränktes Wesen durch Umstände beeinflusst, eben nicht immer schlussgerecht denkt, und auch in seinen sonstigen Wahrnehmungen bedingt und beschränkt, und somit Täuschungen ausgesetzt ist.
Allein die Unfehlbarkeit der Vernunft in ihren Grundprinzipien und in der Geltung der Kriterien der Wahrheit aus Erfahrung geschöpft aufheben wollen, dadurch, dass man nicht zugibt, der Mensch könne etwas in der Sphäre der Vernunft unfehlbar erkennen, hieße die Vernunft selbst leugnen, und das ganze Menschengeschlecht in ein Narrenhaus verweisen.
Die Vernunft verlangt eine kompetente Lehrautorität
Um so mehr verlangt die Vernunft für die Garantie, die Erkenntnis und des Bekenntnisses der Wahrheit in Ordnung einer übernatürlichen Offenbarung, eine kompetente Lehrautorität, und zwar eine, in Hinsicht auf das, was nur durch das Wort der Offenbarung uns mitgeteilt wird, von unfehlbarem Lehransehen. Die Ursache dessen liegt in einem zweifachen Grund.
Erstlich, weil die Vernunft es weiß, dass ihr überhaupt kein endliches Urteil zukomme, hinsichtlich der Wahrheiten und Tatsachen, welche die Sphäre der Vernunft selbst übersteigen. Wenn es zur Beglaubigung derselben keine unfehlbare Autorität gäbe, so hätte die Vernunft nicht nur in irgend einem Punkt keine volle Sicherheit, um vernünftig zu urteilen und zu handeln, sondern es schwände der Boden für alle Sicherheit.
Denn wie die Autorität, die ihr die Gewissheit von Wahrheiten und Tatsachen übernatürlicher Ordnung verbürgen sollte, fehlbar ist, und der Vernunft allein kein Urteil darüber zusteht, ob diese Autorität in dem einen oder anderen Punkt geirrt, so tritt die Möglichkeit ein, dass das, was in einem Punkt geschah, auch in anderen geschehen könnte; und somit schwindet alle Sicherheit und Gewissheit, und der Mensch wäre hinsichtlich der Ordnung übernatürlicher Offenbarung und für sein Leben als Bürger einer übernatürlichen Heilsordnung weit schlechter daran, als hinsichtlich seiner irdischen und bloß natürlichen Bestimmung und Erkenntnis.
Die Vernunft erwartet eine unfehlbare Autorität
Zweitens. Die Anerkennung der geoffenbarten Glaubens-Wahrheiten fordert von uns einen Akt des göttlichen Glaubens, der alle Möglichkeit des Zweifels ausschließt. Das könnte aber nie der Fall sein, wenn die Autorität, welche uns die Wahrheit der geoffenbarten Lehren verbürgt, keine unfehlbare wäre. Die Fehlbarkeit schließt ihrem Begriff nach die Möglichkeit der Verirrung ein; und die Besorgnis, dass dem so sei, schließt den Akt des Glaubens ein, den das Wort der Offenbarung von uns fordert.
Die Vernunft erwartet schließlich, dass, wenn Christus eine solche Lehrgewalt eingesetzt, er auch auf die zweckmäßigste Weise gesorgt haben werde, dass diese Lehrgewalt auf die einfachste und der Lage der Kirche angemessenste Weise sich geltend machen könne, und ein solches Tribunal besitze, welches im Stande ist, zu jeder Zeit für die ganze Kirche bei eintretenden Zweifeln und Glaubensstreitigkeiten das Endurteil zu fällen.
Allerdings steht es nicht der Vernunft zu, a priori auszusprechen, was Christus in dieser Beziehung zu tun hatte und tun konnte. Das wäre eben so anmaßend, als zu behaupten, dass Gott die Welt geradezu nach dem Kopernikanischen System zu erschaffen hatte, und die Wirkungen in der Weltbewegung nicht anders hervorzubringen im Stande gewesen, als gerade nur durch das Kopernikanische System, was eine absurde Behauptung wäre.
Christus hat die Lehrgewalt der Kirche nicht im Widerspruch zu seinen eigenen Aussagen bestellt
Allein die Vernunft hat das Recht, a priori zu behaupten, dass Christus, als die unendliche Weisheit, nie die Lehrgewalt der Kirche in einer Weise bestellte, die im Widerspruch mit seinen eigenen Aussagen steht, und die Amtsgewalt derselben illusorisch macht, und der Kirche in der Weltlage, wie sie actu sich vorfindet, nicht entspricht und nicht genügt.
Wohl kann z. B. die Vernunft a priori nicht behaupten, dass Gott nicht durch ein Buch sich mitteilen konnte; wenn er auch dafür gesorgt, dass alle Menschen die Fähigkeit haben zu lesen, und die Sprache eines solchen Buches zu verstehen, und den Inhalt mit solcher Evidenz einzusehen, wie eine mathematische Gewissheit. Allein die Vernunft hat das Recht, a priori zu behaupten, dass Gott ein Buch, wie die Schrift actu ist, für Menschen als Glaubensregel nicht bestimmen konnte, da ja der größte Teil der Menschheit nicht lesen und die Bibel nicht verstehen kann. Die Vernunft kann der höchsten Vernunft nicht eine Absurdität solcher Art zumuten.
Wir wollen nun sehen, was die gläubige Vernunft auf diese ihre Forderung an Christus für eine Antwort erhält, so wie die hl. Schrift und Überlieferung als der doppelte Quell des geoffenbarten Wortes, uns darüber Aufschluss geben. Wir sagen die gläubige Vernunft; denn es handelt sich bei der Begründung unserer Thesis nicht darum, einem Ungläubigen zu beweisen, dass Christus das Haupt der Kirche mit dem Lehransehen der Unfehlbarkeit begabt und zum obersten Richter in Glaubensentscheidungen gemacht: sondern wir haben dies denjenigen zu beweisen, die wirklich an Christus und das Wort der Offenbarung im allgemeinen glauben.
Dem Ungläubigen hätten wir ja vorerst die Gottheit Christi und die Notwendigkeit und Wirklichkeit der Offenbarung zu beweisen. Unsere Thesis betrifft eine Tatsache, über welche divergierende Ansichten unter den Kindern der Kirche selbst zu berichtigen sind. Also:
Was tat Christus wirklich? –
aus: F. X. Weninger SJ, Die Unfehlbarkeit des Papstes als Lehrer der Kirche, 1869, S. 18 – S. 22
siehe auch die Beiträge:
- Hat Christus ein unfehlbares Lehramt eingesetzt
- Christus verhieß die Unfehlbarkeit im Lehramt
- Das Konzil als alleiniges Glaubenstribunal?
Bildquelle
- The_oecumenical_council_of_the_Vatican,_convened_December_8th_1869_LCCN2006677480-1: wikimedia