Das Königliche Gebot

Von der Liebe Art und Grad „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst!“ (Mt. 22, 39)

Schwierigkeit macht für die allermeisten Menschen vom Gebot der Nächstenliebe nur das eine Wort „Nächster“, in dem Sinn nämlich, wie Christus es verstanden wissen will: du sollst alle lieben! Andern allerdings fällt es nicht so schwer, allen Menschen ohne Ausnahme gut zu sein, aber sie scheitern dafür an einem andern Stück, an den bedeutungsvollen, aber oft übersehenen drei Silben: „wie dich selbst“.

Diese drei Silben sagen uns: Deine Nächstenliebe soll sein ein genaues Ebenbild deiner Selbstliebe! Unsere Selbstliebe aber hat vor allem einen Vorzug: sie ist das aufrichtigste, ernsteste und unverfälschteste, was sich denken lässt; sie kann gar nicht verfälscht werden, und mag auch alles in und an einem Menschen Fälschung und Täuschung sein, seine Selbstliebe ist immer echt und ursprünglich. So wahr und echt wie die natürliche Selbstliebe sei nun nach Christi Gebot auch die edlere Nächstenliebe. Nur kein Surrogat der Liebe! ruft Christus, dieser ernsthafte, aufrichtigste Menschenfreund und Volksbeglücker in unsere Welt der Surrogate, in unsere Welt konventioneller Formen und Lügen, in unsere Welt des Scheins und Trugs hinein. Fragt euch, ob eure Liebe nicht eine Täuschung, vielleicht auch eine Selbsttäuschung sei! Fragt euch, ob es euch heiliger Ernst ist mit euren freundlichen Mienen und dem Lächeln, das ihr dem Bruder zeigt, ernst mit Gruß und Glückwunsch und Teilnahmsworten, ernst mit all den sozialen Wünschen und Worten und angefangenen Werken, oder ob das alles nur Geste, Phrase und Maske ist!

Eben weil die Selbstliebe, der Nächstenliebe Vorbild, so ganz und gar kein Trug ist, darum ist sie auch nicht träge. Sie denkt und berechnet, sie handelt und schafft, ist immerdar rührig und tätig. Und so soll denn wohl auch die Nächstenliebe sich emsig betätigen. Aber was soll sie tun? Siehe, wie sprach doch der Herr? „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ Deine Nächstenliebe hat also nur genau dieselben Dinge zu tun, die deine Selbstliebe tut. Die Selbstliebe nun horcht auf all die kleinen und großen Wünsche des menschlichen Herzens und sucht sie so schnell als möglich zu erfüllen; sie achtet auf des Herzens Abneigungen und Befürchtungen und sucht ihnen Rechnung zu tragen; sie bemerkt alle Nöten unseres lieben Ich und beeilt sich, ihnen abzuhelfen: und so muss denn nun auch die Bruderliebe Herzenswünsche verwirklichen, Befürchtungen vereiteln, Abneigungen berücksichtigen, Bedürfnissen Rechnung tragen, Durst und Hunger stillen, Ehrgefühle schonen, Sorgen verscheuchen, Freude bereiten, – nur mit dem Unterschied, daß die Nächstenliebe dies alles nicht für die eigene Person, sondern für andere tut. In allen Dingen, großen wie kleinen, in allen Lagen und Zweifeln braucht die Nächstenliebe nur hinzusehen auf die Selbstliebe. Sie braucht sich stets nur zu fragen: Was würde da die Selbstliebe tun? Und siehe, in keiner Schule wird die Nächstenliebe eine zartere Aufmerksamkeit, eine größere Gefälligkeit, ein feineres Gebaren und edleres Benehmen erlernen als in der Schule ihrer so ungleichen Schwester und Gegnerin, der Selbstliebe!

Darum hat schon das Altertum die Sage erfunden, alles, was ein Mensch seinen Mitmenschen in diesem gegenwärtigen Leben Liebes oder Leides tut, das werde er, wenn seine Seele das nächste Mal in einen Menschenleib und ein Menschenleben eingegangen sei, von andern selber erfahren. Das Alte Testament aber hat denselben Gedanken in die schlichte Lebensregel umgeprägt: „Was du nicht willst, daß von einem andern die geschehe, das sollst du auch andern nicht tun!“ (Tob. 4, 16), und mit kleiner, aber bedeutungsvoller Änderung sagt ähnlich das Neue Testament: „Alles was ihr wollt, daß euch die Menschen tun, das sollt ihr ihnen auch tun!“ (Mt. 7, 12)

So kann denn die Nächstenliebe in ihrem Leben und Streben die Richtung nicht verfehlen, wenn sie nur von der Selbstliebe die Wünsch und Bedürfnisse eines Menschenherzens zu erfahren sich bemüht. Und auch wie weit die Nächstenliebe in dieser Richtung gehen kann und muss, sagt uns die Selbstliebe: genau so weit wie sie selber auch. „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst!“

Es gibt Menschen, die aus einer gewissen angeborenen Liebenswürdigkeit andern gegenüber gerne gefällig und freundlich sind, aber nur so weit als die Interessen der andern nicht ihren eigenen Interessen widerstreiten. Sie geben Almosen von ihrem Überfluss, machen wohltätige Stiftungen von dem, was sie nach dem Tode hinterlassen werden, erfüllen Wünsche, wenn diese nicht ihren eigenen Wünschen entgegen sind, gewähren Bitten, die ihnen keine Unannehmlichkeiten bereiten, und verzeihen gerne das, was ihnen nicht wehe getan.

Sobald aber das Wohl und Wehe des Nächsten mit ihren eigenen Interessen sich nicht mehr deckt, hören sie auf, gütig zu sein. Doch solche haben eigentlich noch gar nicht angefangen wirklich gütig zu sein, ihre Liebe war stets nur etwas Kümmerliches und Schwächliches und wird mit der Zeit von dem Egoismus noch ganz erdrückt. Gewiss verlangt das Gebot der Liebe nicht, daß wir stets und überall fremde Interessen den unsrigen vorgehen lassen – das wäre heroisch, den Nächsten mehr zu lieben als sich selbst -, andrerseits aber gibt sich das Gesetz Christi auch nicht damit zufrieden, wenn wir dem Nächsten stets und immer erst die zweite Stelle gönnen. Wir müssen lernen, mehr und mehr unser Ich und den Nächsten auf die gleiche Linie zu setzen und darum allmählich ebenso oft die Wünsche des Nächsten zu berücksichtigen wie unsere eigenen Wünsche.

Wäre unsere Nächstenliebe der Selbstliebe wirklich ebenbürtig, welch gewaltige, die Welt verwandelnde Kraft würde sie werden! Die Selbstliebe gestaltet das Menschenschicksal, sie gestaltet die Welt. Sie war es, die diese Erde erfüllte mit kleinen freundlichen Blumengärtlein und mit großen bezaubernden Parken, mit traulichen Hütten und ragenden Palästen, mit Handelsstraßen und Kanälen, Fabriken und Kaufhäusern, mit all den riesenhaften Gebilden moderner Kunst und Technik und Wissenschaft. Das Werk der Bruderliebe erscheint dagegen so kümmerlich. Eine Anzahl Hospitäler, Waisenhäuser und Armenstuben sind von ihr in das Elend der Erde hinein gestellt, aber das Angesicht der Erde hat sich nicht eigentlich verändert. Das Tal der Tränen, in das einst das Paradies verwandelt worden, wartet noch immer auf die Erlöserin, auf jene Bruderliebe, die so groß ist wie der Menschen Eigenliebe. Vielleicht kannst du für dich wenigstens ein Stücklein dieses versunkenen Paradieses, ein Stücklein der Welt vom Elend erlösen.

Gott erwartet es von dir und sagt: „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst!“ –
aus: Bonifaz Wöhrmüller OSB, Das königliche Gebot, 1929, S. 16 – S. 19

siehe auch den Beitrag: Die Nächstenliebe ist Ausfluss der Gottesliebe