Das Königliche Gebot

Vom Wesen der Liebe „Du liebst alles.“ (Weish. 11, 25)

Mit gutem Sinn tauscht man am Traualtar goldene Ringe; denn die Liebe ist das Gold der Welt. Doch kein Edelmetall ward je in so vielfachen Fälschungen nachgeahmt wie dieses Gold der Liebe. Die aller verschiedensten, ungleichartigsten Dinge tragen diesen hohen, heiligen Namen, werden Liebe genannt von Toren oder von Weisen, von Sündern oder von heiligen, werden als Liebe besungen von den Drehorgeln der Gasse oder von den Kirchenorgeln heiliger Dome. Welches ist da in Wirklichkeit jene Liebe, die das „Größte“ (1. Kor. 13, 13) heißt in der Welt?

An einem Zeichen unterscheidet sich meist schon auf den ersten Blick die unechte Liebe von der wahren und Gott verwandten. Nietzsche mahnt einmal, man solle „nicht an einer Person hängen bleiben, und sei sie auch die geliebteste. Jede Person ist ein Gefängnis, auch ein Winkel.“ Der Philosoph hat mit dieser Mahnung den entscheidenden Punkt getroffen. Eine Zuneigung oder freundliche Gesinnung, die sich nur auf einen einzelnen Menschen oder nur auf zwei oder zwölf oder auch nur auf ein Volk oder die halbe oder auch die ganze Menschheit beschränkt, jede, Liebe, die nicht Himmel und Erde zumal umfasst, ist lediglich etwas Menschliches, Allzumenschliches, ist nicht die Gott gewollte, Gott verwandte Liebe. Diese, mag sie auch in einem noch so kleinen, engen Menschenherzen wohnen, ist doch selber niemals etwas Kleines und Enges; sie weitet Geist und Herz und umfasst alles, was da ist, Gott und die Welt, den Stern am Himmel und den Wurm am Weg, Mensch und Tier, Gute und Böse, Freund und Feind. Was vom Herzen Gottes die Schrift einmal sagt, das müsste man auch zu jedem liebevollen Menschen sagen können: „Du liebest alles.“

Eine Liebe aber, die nicht nur einem Winkel, sondern allen Weltweiten gilt, wie ist sie möglich?
Alle echte, lebenswarme Liebe enthält stets eine gewisse Freude an dem, was man liebt; der Mann liebt den Freund, die Braut, die Mutter, weil er sich ihrer Güte oder Tugend oder Schönheit freut; wir lieben eine Blume, ein Tier, ein Bild, eine Sonate, weil sie uns das Herz mit Freude erfüllen. Aber da wir nun alles und alles lieben sollen, hat denn alles und jedes in der Welt einen solchen Vorzug? Hat insbesondere jeder Mensch, auch der Einfältige, der Sünder einen Vorzug, der uns das Herz abgewinnen kann?

Ein bekanntes Gedicht erzählt, wie ein altes Mütterlein das Grab eines Landstreichers und Selbstmörders schmückt. Da tritt der Totengräber neben die Frau und fragt sie erstaunt: „Hat er denn auch was Gutes getan?“ Und die gute Alte erwidert: „Ich dachte nur, wie ihr ihn so begrabt – er hat einmal eine Mutter gehabt.“

Etwas Ähnliches, ja etwas noch Schöneres kann man wohl von jedem Menschen, von jedem Geschöpf sagen. Von jedem Wurm, von jedem Kind, von jedem Weisen und jedem Toren. Von jedem Sünder wie von jedem Heiligen kann man sagen: wenn er sonst gar nichts Gutes hätte, so hat er doch auch einen Vater im Himmel, der ihn liebt, hat doch seinen Gott und dessen Liebe. Jegliche Kreatur ist von der Liebe Gottes geschaffen und getragen, geschützt und gehegt und insbesondere jeder Mensch, was und wie er auch immer sei, hat Gottes unendliche Liebe. Jedem Menschen hält Gott den Kelch des Blutes und seiner Liebe entgegen: „Trinket alle daraus!“ Für jeden Menschen hat er die Arme sehnsüchtig liebevoll ausgebreitet: „Kommet alle zu mir!“; über jedem schwebt die Taube der ewigen Liebe und tönt die Stimme: „Das ist mein liebes Kind!“

Wie der Schimmer der Sonne alles vergoldet, Erde und Himmel, Wolken und Meer, selbst die ärmste Hütte am Strand und den müden, Staub bedeckten Wanderer der Straße, so verklärt der Glanz der Liebe Gottes, auf allen und allem ruhend, jede Kreatur und jedes Menschenwesen. Dieser Gedanke: „Gott hat auch ihn lieb“, umgibt einen jeden Menschen in unseren Augen mit einer wundersamen, wenn auch nur im Glauben gesehenen Schönheit, die mehr als alle Schönheit unser Herz gewinnen muss. Ein Franziskus begegnet mit brüderlicher Güte nicht nur der fröhlichen Schwalbe und dem unschuldigen Lamm, sondern auch de grimmen Wolf; ist ja auch dieser Gottes Kreatur. Und wenn Menschen wie eine heilige Elisabeth oder eine heilige Margaret mit Andacht und Ergriffenheit sich auch dem Lager der abstoßendsten Aussatzkranken nahen und ihre eitrigen Wunden küssen konnten, dann war es wiederum die Liebe Gottes, die in ihren Augen alle menschliche Hässlichkeit mit größter Herrlichkeit umkleidet hat.

Wir müssen alles lieben, wie auch Gott alles liebt, und wir können alles lieben, weil auch Gott alles liebt. Einen anderen Urgrund kann eine echte und allumfassende Liebe gar nicht haben. Alle rein natürliche Liebe, alle sogenannte Philanthropie ist, wie einmal jemand gesagt hat, nur die Häresie der echten Caritas; alle Liebe, die die Menschheit eben nur um der Menschheit willen liebt, ist glänzende Täuschung, ist Talmi (=Falschgold). „In der abstrakten Liebe zur Menschheit“, sagt der seelenkundige Dostojewski einmal, “liebt man fast immer nur sich selbst.“ Und ein anderer Herzenskenner schreibt: „Alle sogenannte Menschenliebe ist ohne die Wurzel einer starken Liebe zu Gott eine Illusion und ein Selbstbetrug. Denn entweder liebt man in diesem Falle bloß die Liebenswürdigsten oder die, von denen man selbst geliebt wird, stets merkwürdig rasch entschlossen, die Liebe zu vermindern oder ganz aufzugeben, sobald diese Vorbedingung in Wegfall zu geraten scheint. Oder Menschenliebe ist überhaupt bloß ein schöneres Wort für ein ziemlich kühles, allgemeines Wohlwollen, eigentlich mehr ein inoffensives Verhalten, wie es sogar gesättigte Raubtiere gegen ihre Umgebung haben. Bei dieser Menschenliebe können jährlich Millionen geistig oder leiblich verhungern, ohne daß dieselbe sich darum stark bekümmert oder sich die geringste Entbehrung auferlegt.“ (Hilty, Für schlaflose Nächte)

Der echten Menschenliebe Grund und Wesen ist Religion, Glaube an Gott und Liebe zu ihm. Weil wir so wenig Religion, echte, tief innerliche Religion besitzen, haben wir auch so wenig echte, tief innerliche Liebe. Wir schauen nur mit den blöden Augen des Leibes, nicht mit den Augen des Glaubens in die Welt hinein, und darum bleibt auch unser Herz so kalt und liebeleer. Täglich sollten wir uns daher beim Morgengebet als den Grundgedanken unsres Glaubens und als Hauptmotiv unsrer Liebe das kurze Credo wiederholen: O Gott, Ich glaube, daß „du alles liebst, was da ist, und nichts hassest von dem, was du gemacht hast.“ (Weish. 11, 25) –
aus: Bonifaz Wöhrmüller OSB, Das königliche Gebot, 1929, S. 12 – S. 15

siehe auch den Beitrag: Das Wesen der christlichen Liebe