1. BRIEF DES HL. JOHANNES KAP. 5 VERS 1-4
Die Bezeugung des Glaubens

Christliche Bruderliebe ohne Liebe zu Gott ist unmöglich

Zu diesem psychologischen Grund für die unlösliche Verknüpfung der Bruderliebe mit der Gottesliebe tritt ein zweiter, zwar mehr äußerer, aber um so autoritativer Grund: das direkte Liebesgebot des Herrn (vgl. Matth. 22, 37-40): „Und dieses Gebot haben wir von ihm (nämlich von Christus), dass, wer Gott liebt, auch seinen Bruder lieben soll.“

Der dritte Grund liegt im Wesen der Bruderliebe selbst: „Jeder, der glaubt, dass Jesus der Christus ist, ist aus Gott gezeugt (oder geboren). Und jeder, der den Erzeuger liebt, liebt auch den von ihm Gezeugten.“ Wenn das schon im natürlichen Leben gilt, dass jeder Mensch seinen leiblichen Bruder naturgemäß liebt, dann um so mehr im übernatürlichen. Hier ist also die Eigenart der christlichen Bruderliebe, von der der ganze Brief handelt, beschrieben. Sie ist wesentlich verschieden sowohl von dem erán als auch dem phileín. Denn ihr Objekt ist nicht einer, auf den der leidenschaftliche Trieb nach Ergänzung des eigenen Ich sich geworden hat, auch nicht einer, der meine natürliche Sympathie genießt, weil er mehr oder minder eng durch Bande des Blutes mit mir verbunden ist oder überhaupt ein Menschenantlitz trägt, sondern der Glaubensgenosse, der ebenso wie ich „aus Gott gezeugt“ ist.

Denn wer durch die Wiedergeburt Gott zum Vater erhalten hat, kann unmöglich seinen Vater lieben, ohne auch die anderen Kinder dieses Vaters zu lieben, die ja alle in gleicher Weise sich der Vaterliebe Gottes erfreuen. Damit ist auch der Kreis derer gezogen, auf die die spezifische christliche Liebe sich erstreckt. Es sind alle und nur die, die zur großen übernatürlichen Blutsverwandtschaft Christi gehören. Natürlich will der Apostel damit ebenso wenig wie Christus das Gebot der allgemeinen Menschen- ja sogar Feindesliebe aufheben. Aber diese innige, übernatürliche Familienliebe, von der Jesus in der Abschiedsrede sprach und von der hier im Brief sein vertrauter Jünger handelt, kann naturgemäß auch nur in diesem engeren Kreis herrschen, und soll und muss es aber auch, zumal sie ja das eigentliche Kennzeichen der Jünger Christi sein soll (Joh. 13, 35).

Wenn wir das alles nicht mehr so empfinden, ist dies eben das deutlichste Anzeichen dafür, dass wir das Fundamental-Empfinden des Christentums verloren haben: das lebendige und beseligendes Bewusstsein der Kindschaft Gottes. Für die ersten Leser des Briefes waren diese Sätze des Apostels ebenso wenig bloße trockene theologische Schlussfolgerungen als für ihn selber, sondern der lebendige Ausdruck ihres Christenempfindens.

Obwohl übrigens, wie schon gesagt, der heilige Johannes, wenn er auch dem praktischen Bedürfnis entsprechend nur von der Bruderliebe im engeren Sinn handelt, sicher keineswegs das allgemeine Gebot der Nächstenliebe auf diese Bruderliebe einschränken will, so sieht man doch, wie weit er von jener allgemeinen verwässerten Allerweltsliebe entfernt ist, die das Mark in den Knochen aufzehrt und zu Gut und Bös, Hässlich und Schön, Wahr und Falsch mit gleichem süßem Lächeln ja sagt, um des lieben Friedens und der behaglichen Ruhe willen. Wie scharf er selber werden und was für Trennungsstriche er ziehen kann, das zeigen seine eigenen Briefe. (Vgl. seine Sprache gegen die Irrlehrer und 1. Joh. 5, 16b; 2. Joh. 10, 11). Ja selbst innerhalb der christlichen Glaubens- und Liebes-Gemeinschaft gilt es, dass die Liebesverpflichtung des einen keineswegs für den anderen die Erlaubnis zu jeglicher Lieblosigkeit in sich schließt, sondern dass die Übung der Liebe naturnotwendig auf Gegenseitigkeit beruhen muss. Aber strenge Christenpflicht ist es für jeden, zu dieser Gegenseitigkeit seinen ganzen vollen Anteil beizutragen. Dazu aber wird ihm im praktischen Handeln nur die aufrichtige Liebesgesinnung auch gegenüber dem lieblosen Bruder den richtigen Weg zu weisen imstande sein.

Wenn somit die christliche Liebe etwas wesentlich anderes ist als das erán und phileín, so ist damit doch keineswegs gesagt, dass ich erst die natürliche Liebe ertöten muss, um übernatürliche lieben zu können. Im Gegenteil. Wo die natürliche innere Wärme fehlt, jene spontane innere Neigung zum andern, da ist überhaupt keine Liebe vorhanden, auch keine übernatürliche. Jene kalte, herzlose Pflicht- und Amtsliebe, hinter der sich die stumpfe Gleichgültigkeit oder sogar direkte Abgeneigtheit versteckt, stellt nur noch eine Karikatur der Liebe dar. Kein Wunder, dass sie die Menschen oft mehr verletzt als ausgesprochene Lieblosigkeit.

Die wahre übernatürliche Liebe schließt die natürliche nicht aus, sondern ein. Sie nimmt sie ganz in sich selbst hinein, nachdem sie vorher das, was etwa sündhaft daran gewesen, ausgeschieden hat, und facht deren oft so schwache natürliche Wärme an zu frischer wohltuender Glut. Der christliche Bruder ist ja nicht nur ein Mensch wie ich, der ein ganzes Menschenschicksal auf seinen Schultern trägt, das meine Sympathie von vornherein wach rufen muss. Es ist zudem ein Kind Gottes, wie ich es bin, einer den Christus liebt und gegen dessen Fehler er Nachsicht hat wie gegen meine eigenen. Da geht es ja gar nicht mehr anders, als dass auch ich ihn liebe, und dieselbe Geduld mit ihm habe wie mit mir selbst. Diese richtige christliche Liebe ist also keineswegs blind aus lauter formelhafter Angst: Man darf nichts Böses denken und reden über den Nächsten. Aber aus all ihrem etwa notwendigen und berechtigten Tadel und selbst ihrer bitteren Klage spricht eben doch die Gesinnung der Liebe.

Wenn somit den eigentlichen Wesensgrund der christlichen Bruderliebe dessen Gotteskindschaft bildet, so ist nicht nur klar, dass man Gott nicht lieben kann, ohne auch den Mitchristen zu lieben, sondern auch umgekehrt, dass christliche Bruderliebe ein Ding der Unmöglichkeit ist ohne die Gottesliebe.

Der heilige Johannes kann also das Verhältnis auch umgekehrt ausdrücken. Hat er früher die Bruderliebe als das einzige untrügliche Kennzeichen der Gottesliebe dargestellt, so schreibt er jetzt: „Daran erkennen wir, dass wir die Kinder Gottes lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote ausführen.“ Diese plötzliche Umstellung scheint nun aber doch etwas zu kühn zu sein. Denn wie soll ich an der doch nur in der Bruderliebe nachweisbaren Gottesliebe nun auf einmal das Kennzeichen der Bruderliebe haben? Der heilige Johannes hat trotzdem recht. Gar nicht selten meinen wir, aus reiner übernatürlicher Liebe zu handeln. Und wir merken gar nicht, dass wir „nur tun, was auch die Heiden tun“ (Matth. 5, 47), weil unsere Liebe nichts anderes ist als ein ganz natürliches phileín, ja unser vermeintlicher übernatürlicher Eifer sogar aus einem leidenschaftlichen erán heraus sprudelt.

Und diese Gefahr der Verwechslung von rein natürlicher und übernatürlicher Liebe ist um so größer, als ja auch der übernatürlichen Liebe, wenn sie wirklich Liebe ist, die gleiche Wärme eignet wie der natürlichen. Den Unterschied kann einer nur daran erkennen, ob er auch die Liebe Gottes besitzt, d. h. seine Gebote erfüllt. Denn „darin besteht die Liebe zu Gott, dass wir seine Gebote beobachten“. Wer also z. B. aus Rücksicht auf Gottes Gebot das, was in seiner Liebe zu dem einen zu egoistisch oder gar sündhaft ist, heraus schneidet und andrerseits dem andern, der weniger seine natürliche Sympathie wach ruft, ja vielleicht ihn abstößt, doch ähnliche Liebe zuwendet wie dem ersten aus Rücksicht auf Gottes Liebesgebot, der kann daran erkennen, dass seine Nächstenliebe wirklich in Gott wurzelt. Das aber ist nicht leicht, seine Liebe einerseits so zu zügeln und andrerseits so ins Weite hinaus zu treiben, dass sie alle Gotteskinder in gleicher Weise umfasst, so dass man gegenüber jedem ohne Unterschied seine Menschen- und Gotteskinder-Pflichten, die ja alle in dem einen Gebot der Liebe zusammen gefasst sind, aus innerem Trieb erfüllt.

Denn nichts ist schwerer zu lenken als die Liebe, und in nichts ist der Mensch egoistischer als in der Liebe, so widerspruchsvoll das auch klingt. Der heilige Johannes kennt diese Schwierigkeit. Aber er will sie nicht gelten lassen, sondern schreibt weiter: „Und seine Gebote sind nicht schwer“. Ja, für den natürlichen Menschen sind sie es allerdings, für das Kind der Welt. Aber „alles, was von Gott gezeugt (oder geboren) ist, besiegt die Welt“ und damit auch all das Weltliche, das in uns selber steckt. Sie, die Adressaten des Briefes, die ja alle „aus Gott geboren“ sind, haben eine Kraft in sich, die bereits an ihnen selbst ihre Sieghaftigkeit über die Welt bewiesen hat (vgl. 2, 13 u. 14), die Kraft dessen, der „in ihnen und größer ist als die Welt“ (4,4), das ist die Kraft ihres Glaubens. „Und das ist der Sieg, der die Welt besiegt hat, unser Glaube.“ Denn der Glaube, der einerseits die Vorbedingung unserer Wiedergeburt, andrerseits in seiner Vollendung deren Frucht ist, birgt in sich jene Liebe, die mit ihm zusammen das Wesen des Christentums ausmacht. Denn dieser Christenglaube ist keineswegs ein bloßes schulgemäßes Fürwahrhalten einer Reihe von Glaubens-Lehrsätzen, sondern eine durch den uns geschenkten Geist Gottes (3,24) bewirkte übernatürliche Lebenskraft.

Somit sind in diesem Abschnitt die mannigfachen Wechselbeziehungen zwischen Glaube und Liebe aufgedeckt. Wechselbeziehungen so inniger Art, dass keines von beiden bestehen kann ohne das andere. Sind doch Glaube und Liebe so ineinander verfasert und verwurzelt, dass sie schließlich ein und dieselbe übernatürliche Lebensform des Christen bilden. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIII, 1941, S. 515 – S. 518