1. Brief des hl. Johannes Kap. 2 Vers 18-27
Es folgt keine neue messianische Heilszeit nach Christus mehr
Es war tatsächlich die allgemeine Auffassung der Urchristenheit, die in 1. Petr. 4, 7 ebenso deutlich ausgesprochen ist, wie an dieser Stelle, dass das Weltende in nächster Nähe sei (vgl. auch 1. Kor. 10, 11; 7, 26 u. 29; Hebr. 9, 26; 2. Thess. 2, 1ff.). Wie man zu dieser Auffassung kam, ist leicht einzusehen. Schon die Propheten des Alten Bundes hatten ja in der Weise gesprochen, als ob unmittelbar nach dem ersten Auftreten des Messias das Weltgericht erfolgen werde. Und Jesus hatte, obwohl er deutlich durchblicken ließ, dass noch vieles sich im Verlauf der Weltgeschichte ereignen werde bis zum Eintreten des letzten Gerichtes, doch im Ganzen die prophetische Sprechweise beibehalten. Wenn aber seine Jünger direkte Fragen stellten, gab er ihnen absichtlich ausweichende Antworten (vgl. Apg. 1, 7). Da ist es begreiflich, dass auch die Apostel selbst jene Ansicht teilten. Das Richtige daran ist ja auch, dass heilsgeschichtlich betrachtet tatsächlich „bei uns die Weltzeiten ihr Gesamtziel erreicht haben“ (1. Kor. 10, 11). Es hat in der Heilsgeschichte der Menschheit, die mit der Erschaffung Adams und Evas begonnen hat, verschiedene Weltzeiten gegeben, deren jede ihr nächstes, besonderes Ziel hatte. Aber alle diese Ziele waren nicht Endziele, sondern nur Stationen auf dem Weg zum Endziel, Jesus Christus. In ihm haben alle Heilspläne und Heilsveranstaltungen Gottes ihre Erfüllung gefunden. Es gibt kein neues Heil mehr. Deshalb folgt auch auf die messianische Zeit keine neue Heilszeit mehr, sondern unmittelbar das Gericht. Insofern ist es buchstäblich wahr und richtig: „Es ist die letzte Stunde“ in dem großen Weltentag vor Eintritt der Weltennacht. Woher es kam, dass auch die Apostel diese Stunde für eine sehr kurze hielten, ist schon gesagt worden. Allerdings waren sie sich auch bewusst, dass diese ihre persönliche Meinung und Erwartung nicht zum Inhalt des Glaubens gehörte und dass man Gottes Zeiten nicht mit Menschenmaßen messen kann. Sonst hätte nicht derselbe Petrus, der in seinem ersten Brief ebenso bündig wie hier Johannes schreibt: „Das Ende aller Dinge ist nahe gekommen“ (1. Petr. 4, 7), seine Leser, die das zu wörtlich genommen haben, im zweiten Brief darauf aufmerksam gemacht, dass „beim Herrn ein Tag ist wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag“ (2. Petr. 3, 8).
Also es ist die „letzte Stunde“. Darum gilt es, fest zu halten am rechten Glauben an Jesus, den Sohn Gottes. Denn dieser Glaube und die daraus folgende Bruderliebe sind die beiden Brennpunkte des Christentums, die auch den wesentlichen Inhalt des Johannesbriefes bilden. Diese Mahnung ist um so notwendiger, weil bereits der Antichrist am Wirken ist. „Ihr habt gehört, dass ein Antichrist kommt.“ „Ein“, nicht „der“ Antichrist ist mit den besten Handschriften zu lesen. Der Antichrist ist also ein den Urchristen aus der Katechese bekannter Begriff, obwohl das Wort „Antichrist“ = Widerchrist, d. h. der, der sich an Stelle Christi setzen und den wahren Christus bekämpfen wird, nur in den Briefen des heiligen Johannes vorkommt (außer dieser Stelle noch 2, 22; 4, 3; 2. Joh. 7). Nach 2. Thess. 2 ist er ein Mensch, der „sich wider alles erhebt, was Gott oder Gottheit heißt“ und der sich sogar „für Gott ausgibt. Durch die Kraft Satans wird er auch alle möglichen Machttaten, Zeichen und Wunder der Lüge“ verrichten, wodurch die ins Verderben geführt werden, „die die Liebe zur Wahrheit, durch die sie hätten gerettet werden können, nicht in sich aufgenommen haben“.
Aber schließlich wird ihn „der Herr Jesus mit dem Hauch seines Mundes wegraffen und durch den Eintritt seiner Wiederkunft vernichten“ (vgl. auch Offb. 13 und 14) Ob er eine bestimmte Persönlichkeit ist, wie es nach 2. Thess. 2 und nach Apok. 13 erscheint, oder ob diese Schilderungen einen Typus darstellen, der im Laufe der Welt- und Kirchengeschichte da und dort verwirklicht wird, läßt sich schwer entscheiden, da alle eschatologischen Voraussagungen in ein Dunkel gehüllt sind, das erst am Ende der Zeiten sich ganz aufklären wird. Auf alle Fälle aber hat er seine Vorläufer, die in ähnlicher Kraft der Bosheit ihr Unheil wirken. „Und jetzt sind schon viele Antichristen aufgetreten.“
Es sind die „falschen Propheten“ (4, 1), deren Auftreten ja schon Christus in seiner eschatologischen Rede angekündigt hat. „Daran erkennen wir, dass es wirklich die letzte Stunde ist.“ Denn schon sind die am Werk, die auf das Auftreten des Antichrists und damit indirekt auf das Letzte Gericht hinarbeiten. „Aus unserer Mitte sind sie hervor gegangen.“ Das ist es, was dem Apostel so besonders tief zu herzen geht und was er schier nicht begreifen kann. Und er vermag es sich auch nicht anders zu erklären als durch die Feststellung: „Sie gehörten nicht zu uns.“ Damit ist keineswegs gesagt, dass sie von Anfang an nur unter der Maske der Heuchelei sich aus bösen Absichten in die Christengemeinschaft eingeschlichen haben. Nein, sie können anfangs ehrliche und sogar eifrige Christen gewesen sein. Und doch gehörten sie nicht zu uns. Den richtigen Geist haben sie nie gehabt. „Denn wenn sie zu uns gehört hätten, wären sie auch bei uns geblieben.“
Ist dieses Urteil des Apostels nicht zu schroff und einseitig? Ist es nicht denkbar, dass ein Mensch auch ohne seine Schuld, durch ernste Bedenken getrieben, seine religiöse Überzeugung ändert? Natürlich ist das denkbar, wenn seine religiöse Überzeugung objektiv eine falsche oder wenigstens nicht ganz richtige gewesen ist. Aber dass ein Mensch nicht etwa nur eine Zeit lang von Zweifeln gerüttelt im wahren Glauben schwanken, sondern von demselben ohne seine Schuld gänzlich abfallen könne, das ist dogmatisch doch wohl kaum zu fassen, es sei denn, dass ein Denkdefekt oder sonst eine seelische Verwicklung vorliege, die sich unserer menschlichen Einsicht entzieht. Ein solcher würde freilich auch trotz seiner Trennung vom Leib der Kirche zu deren Seele, zum unsichtbaren corpus Christi mysterium gehören.
Aber auch psychologisch ist es schwer vorstellbar, dass einer, der den Glauben und die Liebe Christi einmal in das Innerste seiner Seele aufgenommen hatte, sich davon gänzlich zu lösen imstande ist. Hierin jedoch täuschen sich viele. Sie schienen fromme Christen zu sein, und glaubten es auch von sich selbst. Aber ihr Christentum war nur Angewöhnung. Es war das Leben ihres Milieus, das sie mitmachten, nicht ihr eigenes persönliches Leben. Oder sie hatten die Religion mit ihrem Gefühl erfaßt, aber nicht mit ihrer Seele. Darum waren sie fromm, ja oftmals überfromm, so lange ihr Gefühl in der Frömmigkeit seine Nahrung fand. Als aber ihre Seele erwachte – und vielleicht ist sie gerade deshalb erwacht, weil sie ihrem Gefühl zu viel aufgeladen haben -, da fielen sie ab. Deshalb ist es von so großer Wichtigkeit für den religiösen Erzieher, dass er sich nicht damit begnüge, die Religion bloß einzuüben, oder nur flüchtige religiöse Gefühle zu erzeugen, und dass er ebenso wenig sie lediglich als dogmatisches und moraltheologisches Lehrfach behandle, sondern tief in die Seelen einpflanze.
Das wird ihm am besten gelingen, wenn er es versteht, die in jeder Menschenseele schlummernde metyphysische und religiöse Anlage zu wecken und zu zeigen, wie einzig und allein in Christus das zu finden ist, wonach jede Menschenseele im tiefsten Grund hungert. Allerdings, die letzte und eigentliche Arbeit kann nicht der Erzieher verrichten, sondern nur der einzelne Mensch selbst durch sein ehrliches Streben unter der Wirkung des Heiligen Geistes. „Es sollte jedoch an ihnen offenbar werden, dass nicht alle zu uns gehören.“ Das wird zu allen Zeiten immer wieder offenbar, und in manchen Zeiten ganz besonders. Und es ist gut, dass es bisweilen offenbar wird.
„Ich schreibe euch nicht, weil ihr die Wahrheit nicht wißt, sondern weil ihr sie wißt, und dass jegliche Lüge nicht aus der Wahrheit stammt.“ Mit diesem wiederum prägnanten Ausdruck will der heilige Johannes natürlich keine Binsenwahrheit aussprechen, sondern die Lehre jener „Antichristen“ von vorne herein als eine falsche, ja als direkte, aus Bosheit hervorgehende Lüge charakterisieren, die allerdings als solche unmöglich etwas mit der Wahrheit gemein haben kann, da sie doch einem ganz anderen Bereich angehört. Ein solcher Lügner aber ist jeder, „der da leugnet, dass Jesus Christus ist“.
Es gab damals schon solche doketische Irrlehrer, die einen Unterschied machten zwischen dem Menschen Jesus und dem Christus oder dem Sohn Gottes, und damit sowohl die Göttlichkeit der Person Jesu als auch in der Konsequenz Jesu Erlösungswerk leugneten. Wer aber den Sohn leugnet, der leugnet auch den Vater und kann ihn infolge dessen nicht besitzen. Denn erst in dem Mensch gewordenen Sohn hat sich der Vater, der ja seinem Wesen nach unsichtbar ist (4, 12; Joh. 1, 18), geoffenbart, nicht nur sein inner-trinitarisches Leben, sondern auch seine Liebe zu den Geschöpfen (4, 9; Joh. 3, 16) im Erlösertod seines Sohnes so dass also der Leugner des Sohnes auch der Erlösung und damit der Liebe des Vaters verlustig geht.
Darum ist es so überaus wichtig, dass die Leser des Briefes beim alten Traditionsglauben verharren, dass die alte Lehre „in ihnen bleibe“. Denn nur dann vermögen sie selber in jener Gemeinschaft mit dem Sohn und dem Vater zu verbleiben, von der der Heiland in der Abschiedsrede so Schönes gesagt hat. Diese Gemeinschaft aber ist wahrhaftig nicht gering anzuschlagen. Denn in ihr findet die Verheißung, die „er selber“, nämlich Christus, uns gegeben hat, ihre Erfüllung. Das will Vers 25 besagen. Das ewige Leben ist nicht nur die zukünftige Folge dieser Gemeinschaft. Sondern in derselben besitzen wir bereits das ewige Leben, da sie ja eine intime Lebensgemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn ist. Eben deshalb kommt alles darauf an, dass sie in dem wahren alten Christusglauben verharren. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIII, 1941, S. 485 – S. 489