Der Judasbrief
Warnung vor Irrlehrern und Spöttern (Vers 14-16): Henochs Prophezeiung über die Gottlosen
Was Judas den Irrlehrern als künftiges Gericht Gottes angedroht hat, belegt er durch das Zeugnis aus der ältesten Menschheitsgeschichte. Henoch, der in der Reihe der Urväter von Adam her die Stelle der heiligen Siebenzahl einnimmt (1. Mos. 5, 3-18; 1. Chron. 1, 1ff), hat sich mit seinen Strafreden zwar zunächst an seine gottlosen Zeitgenossen vor der Sintflut gewandt, aber seine prophetischen Worte gelten auch den „Gottlosen“ in den Reihen der Leser. Dieser Patriarch, von dem die Bibel zweimal bezeugt: „Henoch wandelte mit Gott“ (1. Mos. 5, 22 u. 24), genoss von jeher höchstes Ansehen, namentlich wegen seines geheimnisvollen Endes, über das die Genesis meldet: „Und da Henoch mit Gott wandelte, war er (auf einmal) nicht mehr da, denn Gott hatte ihn hinweg genommen“ (1. Mos. 5, 24; vgl. Weish. 4, 10; Sir. 44, 16; Hebr. 11, 5). Viele erwarteten ihn als einen von den zwei großen „Zeugen“ der Endzeit (Offb. 11, 3ff). Weil Henoch so hoch geachtet war, durfte Judas ihn als Gewährsmann anführen, obgleich das apokryphe Buch Henoch erst aus der Makkabäerzeit stammt. Es ist uns nur in Übersetzungen erhalten geblieben. Aus der Verwendung folgt keineswegs, dass Judas die apokryphe Schrift den inspirierten Büchern der Bibel gleich geachtet hätte, ebenso wenig wie Paulus dadurch, dass er den Epimenides einen Propheten nennt und dessen treffende Charakteristik der Kreter zustimmend zitiert, ihn zu den Schriftpropheten rechnet (Tit. 1, 12). Judas beruft sich direkt nur auf Henoch, nicht auf das Buch Henoch und konnte die Worte aus glaubwürdiger Überlieferung kennen. Übrigens bemerkt Estius mit Recht: „In den Apokryphen ist nicht alles apokryph.“
Die Stelle lautet im Henochbuch 1, 9: „Und siehe, er kommt mit Myriaden Heiliger, um über alle Gericht zu halten, und er wird alle Gottlosen vernichten und alles Fleisch zurecht weisen wegen all der gottlosen Werke, die die gottlosen Sünder begangen und wegen all der heftigen Reden, die sie gesprochen, und wegen all dessen, was sie über ihn Übles geredet haben“ (Ausgabe Beer-Kautzsch 237).
Es fällt auf, wie oft in dem Zitat die Gottlosigkeit der Sünder durch Hauptwort, Zeitwort und Eigenschaftswort betont wird, nachdem Judas vorhin schon die Irrlehrer „Gottlose“ genannt hat (Vers 18). Das Gericht wird sich über Worte und Werke erstrecken. Lange mochte es den Frevlern scheinen, Gott überhöre die frechen Lästerworte, womit sie über seine Weltregierung höhnten, und achte nicht auf ihren frivolen Ungehorsam gegen das göttliche Sittengesetz. Im „Gericht des großen Tages“ (Vers 6) wird jedoch alle Welt erkennen, dass ein gerechter Gott lebt, der seiner nicht spotten läßt (vgl. Gal. 6, 7). Das ist so sicher, dass wiederum in prophetischer Schau die fernste Zukunft als Vergangenheit erscheint und gesagt wird: „Siehe, der Herr ist gekommen“ (vgl. Vers 11).
Im Anschluss an die Worte Henochs fügt Judas weitere Einzelzüge in das Bild der Irrlehrer ein, indem er auf ihre Gesinnung, ihre Reden und Handlungen hinweist. Über alles, besonders über Gottes Vorsehung und die Maßnahmen der kirchlichen Obern haben sie zu nörgeln und zu murren, fühlen sich stets benachteiligt und zurück gesetzt, sind mit ihrem Los unzufrieden und wollen alles reformieren, nur sich selbst nicht. Dass ihre unbeherrschten Gelüste die Hauptquelle des Übels sind, erkennen sich nicht oder geben es nicht zu. Wer ihre hochtrabenden, selbstbewußten und respektlosen Reden hört, könnte sie für unabhängige Menschen halten, aber alles dreht sich um ihr kleines Ich. Darum werden sie vor Personen, deren Gunst ihnen wertvoll erscheint, zu charakterlosen Schmeichlern und würdelosen Kriechern. Den Ausschlag bei ihrem Tun und Lassen gibt nicht Recht oder Unrecht, Wahrheit oder Lüge, sondern einzig ihr persönlicher Nutzen. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI/1, 1942, S. 348 – S. 349