Der Reformkatholizismus der älteren Ordnung
Der Reformgeist aufgeklärter Katholiken Ende des 18. Jahrhunderts
40. Dieser Reformgeist gab freilich meist vor, er wolle nur die Übertreibungen, die Missbräuche, das Außerwesentliche in den kirchlichen und den volkstümlichen Äußerungen der Frömmigkeit beseitigen, um diese zu ihrer vollen Reinheit zurück zu führen…
Täglich redeten sie sich mehr in Aufregung hinein gegen die „mönchischen Afterandachten“, gegen die „ausländischen Andachtsgrillen“, gegen die „Komplettandachten“ der Gebetsvereine und Bruderschaften, gegen die „Andächtelei des Kreuzweges“, gegen die „verdammten geheimen, allzeit bösen Rottierungen“ des Rosenkranzes und des Skapuliers, gegen das „schalkhafte Blendwerk“ der Krippenvorstellungen und der musikalischen Litaneien.
41. Aber es blieb nicht bei den Angriffen auf diese und ähnliche Einrichtungen der freien Frömmigkeit im christlichen Volk. Vielmehr richtete sich der Sturm gegen alles, was die Kirche selber zur Feier des Gottesdienstes und zur Erhöhung der Andacht im Laufe der Zeiten angeordnet hatte.
Treu jenem Geiste des Hasses gegen das Mittelalter und gegen die Scholastik, der unter dem Vorwand, nur die Geschichte gelten zu lassen, die Geschichte eines Jahrtausends ausschaltete und nur das als Kirchenlehre gelten ließ, was er aus den ersten Tagen der Kirche niedergeschrieben fand, anerkannte dieser Reformkatholizismus auch auf dem Gebiete des kirchlichen Lebens einzig das, was er davon in der Katakomben-Zeit entdeckte. Ein Holzschuppen, in dem nur ein Dutzend Menschen Platz hatte, ein unterirdisches Gewölbe ohne Licht, ohne Schmuck, ohne Kalk an den Wänden, ein Tisch, den man zum Altar umgestaltete, indem man auf zwei Nägel zwei Unschlittstümpfchen (=Tierfettkerzen) steckte, das war sein Ideal von Kirche und Gottesdienst, dabei wurde ihm warm. Aber die großen, hellen Kirchen, die Gemälde, die Leuchter, die vielen Lichter, der Weihrauch, der Gesang, das alles machte ihm Kopf- und Herzweh, das alles war ihm Beweis dafür, wie sehr sich die Kirche in den Zeiten der Scholastik verweltlicht und dem Geiste der Urzeit, der reinen „Religion an sich“ entfremdet hatte.
Es ist kaum zu glauben, mit welchem Eifer er gegen die Nebenaltäre und die stillen Messen kämpfte. Nur ein Altar in jeder Kirche, nur eine Messe, an Werktagen lieber gar keine, und die Reform der Kirche ist bewerkstelligt. Nur keine Prozession und keine außergewöhnlichen Andachten! …
42. Unter dem Einfluss dieses Gebarens bildete sich begreiflich immer mehr ein Geist aus, der im schroffsten Gegensatz zum Geist der Kirche stand und kaum noch eine Gebetsweise und eine Übung der Frömmigkeit ertragen konnte, die mit dem Herkommen der Kirche im Einklang stand…
43. Seit langem hatten in Frankreich die gallikanischen und die jansenistischen Bischöfe an den liturgischen Büchern „Reformen“ durchgeführt, die alle bald mehr bald minder darauf hinausliefen, den Inhalt der Kirchenbücher zeitgemäßer umzugestalten, manchmal freilich auch bedenkliche Lehransichten in Form von Gebeten einzuschmuggeln. Jetzt aber, zum Abschluss der ganzen Bewegung, wurde daraus eine ansteckende Krankheit. Es erschien ein Vorschlag nach dem andern zur „Verbesserung der Liturgie“ im Sinne eines „geläuterten Christentums. Wessen Geistes diese Vorschläge waren, das kann man zum voraus erraten, wenn man bedenkt, daß die Stimmführer in diesem Chore (Benedikt Maria von) Werkmeister und (Felix Anton) Blau waren.
Voll „gerechten Unwillens“ über so viel Missbräuche in den katholischen Ritualien gehen sie darauf aus, die „Religions-Anstalten nach dem Zeitbedürfnis zu verbessern“… Inzwischen suchen sie selber „helle Einsichten“ zu verbreiten und auf Abschaffung der Exorzismen, Segnungen, Weihungen, der Fasten und der Bußübungen zu dringen.
44. Wenn es diesen Männern nach gegangen wäre, dann wäre kaum mehr ein Stein auf dem andern geblieben. Die „bisherige Priesterweihe“ ist ihnen „eine der abenteuerlichsten Zeremonien“. Das Missale Romanum ist für sie ein Erbauungsbuch ohne allen Plan und Geschmack, ein altgotisches Gebäude. Es enthält, sagt Werkmeister, viele unrichtige, zwecklose, sogar zweckwidrige Gebete und Zeremonien, woran sich der aufgeklärte Priester unmöglich erbauen kann, die ihm sogar lächerlich vorkommen müssen. Es ist ein sehr „ekelhaftes und geschmackloses Werk“. Auch im Brevier entdeckte die „erleuchtete Denkungsart“ überall „das Gepräge des Aberglaubens und der Heuchelei“ und die Notwendigkeit einer Reform. Dieser Aufgabe unterzog sich der genügsam bekannte Dereser durch sein noch heute vielfach verbreitetes deutsches Brevier, in dem er „viele Missbräuche“ abstellte und vielen „Vorurteilen und Menschensatzungen in Bezug auf Glaubenslehren“ entgegen arbeitete, Eigenschaften, die es zum „Lieblingsbuch der deutschen Geistlichkeit“ machten.
45. Natürlich macht sich der nämliche Geist geltend, wo immer diese Männer kirchliche Einrichtungen beurteilen, die aus dem Glaubensleben der Kirche fließen.
Ein besonderer Stein des Anstosses ist für sie der Ablass. Daß er nur ein Nachlass der kirchlichen, nicht aber der göttlichen Strafe ist, darüber lassen sie auch nicht einmal einenZweifel zu.
Ebenso anstößig ist ihnen das Zölibat. Gegen dieses erschien damals eine Menge von Schriften. Es sei ein „dringendes, gar nicht abzuweisendes Bedürfnis der Zeit, die Priesterehe einzuführen, wolle man nicht die Sittlichkeit, die Religion und das Wohl der Staaten aufs Spiel setzen“. Weder Vernunft noch Schrift noch das kirchliche Altertum spreche für diese Einrichtung; erst Gregor VII. habe sie eingeführt. Aber wie verschieden sei unsere heutige, aufgeklärte Zeit von der älteren, und wie gebildet seien unsere Geistlichen gegenüber jenen mönchischen Finsterlingen, für die ja das Zölibat möge heilsam gewesen sein!
46, Selbstverständlich können Männer dieser Richtung über die aszetische Literatur, in der sich der wahre kirchliche Geist ausspricht, nicht anders urteilen als über die Kirche und ihre Einrichtungen selber. …
Für jetzt könne man nur noch Erbauungsbücher brauchen, die frei seien von „mönchischen Andachtsformeln“, und das „Praktische und Gemeinnützige“ sowie „geläuterte Religionskenntnisse“ nährten, statt dem Aberglauben und den Vorurteilen Vorschub zu leisten. Leider gäbe es noch immer deren nicht allzu viele. Selbst Eckartshausen empfehle manchmal noch so „anstößige“ Dinge wie die lauretanische Litanei. Diese leider so verbreitete Litanei und das Salve Regina seien Erfindungen der Mönche, die dadurch ihre lächerlichen, gegen die christlichen Wahrheiten verstoßenden Sätze hätten verbreiten wollen. Hoffentlich verschwänden aus den Gebetbüchern allmählich diese verkehrten Dinge oder Ausdrücke, die dem „wahren Christentum“ minder gemäß seien, z. B. der Satz, Gott habe uns mit seinem Blut erlöst.
Soviel über die Ansichten des Reformkatholizismus in den Fragen innerkirchlichen Lebens.
57. Nunmehr verstehen wir wohl auch, warum die Kirche in Frankreich und in Deutschland mit dem Ende des 18. Jahrhunderts so plötzlich zusammen gebrochen ist. Die Feinde von außen hätten sie nicht gestürzt, dazu reichte nicht die Macht von Voltaire aus, nicht die von Robespierre, nicht die von Napoleon. Wo aber den äußeren Feinden der Bürgerkrieg und der Verrat von innen in die Hände arbeitete, da war das Unheil unvermeidlich. Schon die Kirchenväter haben die Erfahrung gemacht, daß die Christenverfolgungen nur die Stärke der Kirche mehren, daß diese aber schwach wird und große Einbuße leidet, wenn in ihren Mitgliedern der Glaube und mit dem Glauben die Liebe zur Kirche und damit das übernatürliche Leben abnimmt.
aus: Albert Maria Weiß, Die religiöse Gefahr, 1904, S. 280-287, S. 295