Der Antichrist und die Zeit der Apostasie

Ein Schlüssel zur Deutung der Apokalypse: Matth. 24. Kap.

Wir wollen zuerst mit dem 24. Kapitel des Evangeliums nach dem heiligen Matthäus beginnen, in welchem wir lesen, daß unser Herr, als er die Tempelgebäude betrachtete, sagte: „Hier wird kein Stein auf dem andern gelassen werden, der nicht zerstört wird.“ Und seine Jünger kamen, als er auf dem Ölberg war, insgeheim zu ihm und sagten: „Sage uns, was das Zeichen deiner Ankunft und das Ende der Welt sein wird.“ Sie meinten, die Zerstörung des Tempels in Jerusalem und das Ende der Welt würden Teile einer und derselben Handlung sein und zu gleicher Zeit stattfinden. Wie wir in der Natur die Berge aus der Ferne verkürzt sehen, so daß die ganze Kette derselben nur eine Gestalt zu haben scheint, so ist es mit den Ereignissen der Prophezeiung. Es sind hier zwei verschiedene Begebenheiten, die nur ein scheinen, – die Zerstörung Jerusalems und das Ende der Welt. Unser Herr fuhr fort, ihnen zu sagen, daß eine solche Trübsal kommen werde, wie noch nie gewesen, und daß, wenn jene Tage nicht abgekürzt würden, kein Fleisch würde gerettet werden; daß um der Auserwählten willen jene Tage werden verkürzt werden. Reich werde wider Reich und Volk wider Volk aufstehen; es werden Kriege kommen und Seuchen und Hungersnot an verschiedenen Orten. Ein Bruder werde den andern zum Tode überliefern; sie werden um seines Namens willen verfolgt werden; alle Menschen werden sie hassen; falsche Christi und falsche Propheten werden auferstehen und viele verführen, und inmitten aller dieser Verfolgungen werde er selbst zum Gericht kommen, und gleichwie der Blitz vom Aufgang ausgehe und bis zum Untergang leuchte, ebenso werde es auch mit der Ankunft des Menschensohnes sein.

In dieser Antwort sprach unser Herr von zwei Begebenheiten, von der Zerstörung Jerusalems und von dem Ende der Welt. Die eine ist bereits in Erfüllung gegangen, die andere soll noch kommen. Dieses Kapitel des heiligen Matthäus wird uns einen Schlüssel geben zur Deutung der Apokalypse. Dieses Buch kann in vier Teile geteilt werden. Der erste Teil beschreibt die Kirche auf Erden unter den sieben Kirchen, an welche die Botschaften von unserm Herrn gesandt wurden. Sie stellen wie ein Gestirn die ganze Kirche auf Erden dar. Der zweite Teil bezieht sich auf die Zerstörung des Judaismus und den Sturz des jüdischen Volkes. Der dritte Teil bezieht sich auf die Verfolgung der Kirche durch die heidnische Stadt Rom, und der vierte und letzte Teil auf den Frieden der Kirche unter der Gestalt des himmlischen Jerusalem, das vom Himmel herab kommt und unter den Menschen weilt. Viele Ausleger, namentlich der ersten Jahrhunderte, und auch Schriftsteller wie Bossuet und andere späteren Datums, haben angenommen, die Weissagungen der Apokalypse, mit Ausnahme nur der letzten Kapitel, seien durch die Ereignisse in Erfüllung gegangen, die in den ersten sechs Jahrhunderten stattfanden, – das heißt, die Zerstörung Jerusalems, die Verfolgung der Kirche und die Vernichtung des heidnischen Rom. Aber es ist die Natur der Prophezeiung, sich allmählich zu entfalten. Wie ich von Bergen sagte, die unsern Augen aus der Ferne verkürzt vorkommen, die aber,je mehr wir uns denselben nähern, ihre Umrisse zu entfalten anfangen, so ist es mit den Ereignissen der Prophezeiung. Die Handlung der Welt bewegt sich in Kreisen, das heißt, wie der weise Mann sagt: „Was gewesen, wird wieder sein“, und „es gibt nichts Neues unter der Sonne“, und das, was wir im Anfang gesehen haben, soll nach der Prophezeiung am Ende der Welt wieder eintreten. In den vier Abteilungen des Buches der Offenbarung haben wir drei Hauptagenten gesehen: Die Kirche, die Juden, und eine verfolgende Macht, welche das heidnische Rom war. Diese drei aber existieren gegenwärtig noch auf Erden. Es ist noch die Kirche Gottes da, es ist das alte Volk Gottes, die jüdische Rasse, durch eine geheimnisvolle Vorsehung erhalten, um für irgend ein künftiges Ereignis als Werkzeug zu dienen, und drittens haben wir die natürliche menschliche Gesellschaft ohne Gott, welche die Form des alten Heidentums annahm, und in den letzten Tagen die Form des Unglaubens annehmen wird. Die letzten drei Agenten in der Geschichte der modernen Welt sind folgende: erstens die natürliche Gesellschaft der Menschheit, zweitens die Zerstreuung des jüdischenVolkes, und drittens die allgemeine Kirche. Die beiden letzteren sind die einzigen Genossenschaften, welche alle Nationen durchdringen und eine von ihnen unabhängige Einheit haben. Sie besitzen eine größere Macht, als irgendein Volk, und bleiben einander immer Todfeinde. Nun aber hatte die Kirche bereits zwei Verfolgungen auszustehen, eine von Seiten der Juden, und eine auch von Seiten der Heiden; aber die Schriftsteller der ersten Jahrhunderte, die Väter sowohl des Morgen- als des Abendlandes haben auch voraus gesagt, daß in dem letzten Zeitalter der Welt die Kirche eine dritte Verfolgung werde ausstehen müssen, heftiger, blutiger und grausamer, als irgend eine, die sie bis jetzt erlitten hat, und zwar von der Hand einer ungläubigen, von dem inkarnierten Wort abgefallenen Welt. Daher offenbart das Buch der Apokalypse, wie die Prophezeiung bei dem heiligen Matthäus, zwei Begebenheiten oder zwei Handlungen. Wir finden hier das Ereignis, das vergangen ist, das Vorbild und den Schatten des künftigen Ereignisses, und das Ereignis, das am Ende der Welt noch kommen soll, und alle Verfolgungen, die bisher stattgefunden haben, sind nichts weiter als die Vorläufer und die Vorbilder der letzten Verfolgung, die eintreten wird. –
aus: Heinrich Eduard Manning, Kardinal, Der Antichrist oder die gegenwärtige Krise des heiligen Stuhls, im Lichte der Weissagung betrachtet, 1861, S. 69 – S. 72

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