Der Antichrist und die Zeit der Apostasie
Wer hält den Antichrist den Schach?
Wir sind nun beinahe zu einer Lösung der Frage gelangt, die ich im Anfange aufstellte, wie es nämlich kommt, dass die Macht, welche die Offenbarung des Gesetzlosen hindert, nicht nur eine Person ist, sondern ein System, und nicht nur ein System, sondern eine Person. Mit einem Worte, es ist die Christenheit und ihr Haupt, und daher sehen wir in der Person des Statthalters Christi und in jener doppelten Autorität, womit er durch die göttliche Vorsehung bekleidet worden ist, den direkten Gegner gegen das Prinzip der Unordnung. Der Gesetzlose, der kein Gesetz kennt, weder göttliches noch menschliches, noch irgend Jemand gehorcht als seinem eigenen Willen, hat auf Erden keinen direkteren Gegner, als den Statthalter Christi, der zu gleicher Zeit den Charakter der königlichen und der priesterlichen Würde an sich trägt, und die zwei Prinzipien der Ordnung im weltlichen und im geistlichen Stande repräsentiert – das Prinzip der Monarchie oder der Staatsgewalt, und das Prinzip der apostolischen Autorität. Wir finden mithin die drei Auslegungen, die ich aus den Heilgen Vätern zog, hierin buchstäblich bestätigt. Wie im langsamen Verlaufe der Zeit das Werk der Apostel heranreift und zeitigte, hat sich die Christenheit gebildet, indem sie die Voraussetzungen buchstäblich erfüllte, und das offenbarte, was, wie der Apostel voraussagte, die Entwicklung dieses Prinzips der Gesetzlosigkeit und die Offenbarung der Person hindern würde, die das Haupt derselben sein sollte.
Was ist es also, das in diesem Augenblick die Manifestation dieser antichristlichen Macht und die Person in Schach hält, welche dieselbe handhaben wird? Es kann nur zwei Gesellschaften geben, eine natürliche und eine übernatürliche. Die natürliche Gesellschaft ist jene politische Ordnung, die aus dem Willen des Menschen kommt, ohne Beziehung auf die Offenbarung oder die Inkarnation Gottes. Die übernatürliche Gesellschaft ist die Kirche, welche jene Nationen in sich begreift, die durchdrungen von dem Geistes des Glaubens und der katholischen Einheit, noch den Prinzipien getreu sind, auf welche die Christenheit zuerst gegründet wurde.
Immer seit der Gründung des christlichen Europa hat die politische Ordnung der Welt auf der Menschwerdung unseres Herrn Jesu Christi beruht. Aus diesem Grunde werden alle öffentlichen Urkunden und selbst der Kalender, nach welchem wir unsere Tage datieren, „von dem Jahre des Heils“ oder „von dem Jahre unsers Herrn“ an gerechnet. Was bedeuten diese Worte anders, als dass der Zustand und die Ordnung, unter welchen wir leben, sich auf die Menschwerdung gründet; dass das Christentum unser Fundament ist, daß wir die geoffenbarten Gesetze Gottes anerkennen, die seinem menschgewordenen Sohne und durch den menschgewordenen Sohn den Aposteln und durch die Apostel der Welt als die ersten Grundsätze aller christlichen Gesetzgebung und aller christlichen Gesellschaft überliefert wurden. Diese Gesellschaft aber, die auf die Menschwerdung Gottes gegründet ist, ist der Zustand, unter welchem wir bisher gelebt haben. Ich glaube, dass wir nun denselben verlassen. Wir verlassen ihn in der ganzen zivilisierten Welt. In England ist die Religion aus dem Gebiet der Politik verbannt. In vielen Ländern z.B. in Frankreich und jetzt in Österreich ist es durch ein öffentliches Dekret erklärt, dass der Staat keine Religion habe, dass alle Sekten gleich teilnehmen an dem politischen Leben und an der politischen Macht der Nation. Ich spreche jetzt nicht gegen dieses. Man möge mich nicht mißverstehen. Ich führe es als eine Tatsache an. Ein großer Teil jeder Nation und ein großer Teil von Frankreich und von Österreich besteht aus jenem Volke, das die Ankunft Gottes im Fleisch, d.h. die Menschwerdung leugnet…
Wir haben bereits gesehen, das das dritte und besondere Merkmal des Antichrist die Leugnung der Menschwerdung Gottes ist, und wenn die Nationen der Welt durch den Glauben auf die Basis der Menschwerdung gegründet sind, so ist der nationale Akt, welcher jene, die sie leugnen, in eine soziale und politische Einheit aufnimmt, in der Tat ein Herabrücken der Ordnung des sozialen Lebens von der übernatürlichen zu der natürlichen Ordnung, und dies ist es, was wir jetzt in Erfüllung gehen sehen… Ich sage nicht, daß die politische Verfassung eines Landes aufrecht erhalten werden solle, nachdem der Zustand eines Volkes dies moralisch unmöglich oder schwierig macht. Wenn es unmöglich geworden ist, diese christliche Ordnung über ein Volk aufrecht zu erhalten, das durch ein Schisma von der Kirche getrennt oder durch die Häresie angesteckt ist, oder sich mit solchen vermischt, welche die Menschwerdung Gottes leugnen, so ist alles, was ich sagen kann, dies, dass wir in den erbärmlichen Zustand herabgesunken sind, die wahre christliche Gesellschaft aufgeben zu müssen. Die ist die fürchterliche Notwendigkeit, welche die Regierungen trifft, wenn sie von der Einheit und den Grundsätzen der Kirche Jesu Christi abweichen. Wenn ein solcher Zustand nicht ohne Gewalt aufrecht erhalten werden kann, so muss er aufgeben werden. Ecclesia abhorret a sanguine. Es ist nicht der Geist der Kirche, politische Probleme durch blutige Gesetze aufzudrängen, oder die Leute durch Anwendung der physischen Macht zu zwingen. Aber größer ist das Elend für ein Volk, das den Glauben an die Menschwerdung so verloren hat, daß es notwendig ist, die christliche von der Vorsehung Gottes eingesetzte Ordnung aufzugeben. Allein so ist der Zustand der Welt beschaffen, und diesem Ende treiben wir rasch entgegen. Man erzählt uns, der Ätna habe einhundertsechzig Krater. Außer den zwei gewaltigen Öffnungen, die miteinander den unermeßlichen Krater bilden, der gewöhnlich so heißt, ist er auf allen Seiten durch Kanäle und Mündungen durchlöchert, durch welche in vergangenen Jahrhunderten die Lava von Zeit zu Zeit hervorbrach. Ich kann kein besseres Bild für den Zustand der Christenheit in diesem Augenblick finden. Die Kirche Gottes ruht auf der Basis der natürlichen Gesellschaft, auf den Grundlagen des alten römischen Reiches, auf der Zivilisation der heidnischen Völker der Welt, die befestigt, erhoben, bewahrt, umgewandelt und geheiligt wurden durch die Wirksamkeit des Glaubens und der Gnade. Die Kirche Gottes ruht noch auf jener Grundlage, aber unterhalb der Kirche ist beständig das Geheimnis des Bosheit wirksam, das bereits in den Zeiten der Apostel tätig war, und im gegenwärtigen Augenblick den Gipfel seiner Kraft erreicht und die Oberhand gewinnen will. Was, frage ich, war die Französische Revolution von 1789 mit allen ihren Bluttaten, Gotteslästerungen und Grausamkeiten anders als ein Ausbruch des antichristlichen Geistes – die Lava, welche der Berg auswarf? Und was war der Ausbruch im Jahre 1830 und 1848, als gerade dasselbe Prinzip des Antichrist, das unter dem Boden der christlichen Gesellschaft tätig war, und sich seinen Weg nach oben erzwang? Im Jahre 1848 öffnete die Revolution gleichzeitig ihren vielfältigen Schlund in Berlin, in Wien, in Turin, in Florenz, in Neapel und in Rom selbst. In London regte sie sich, aber es war noch nicht Zeit. Was ist all dies anders als der Geist der Gesetzlosigkeit, der sich gegen Gott und den Menschen erhebt, – das Prinzip des Schismas, der Häresie und des Unglaubens, das in eine Waffe zusammen läuft und sich überallhin ergießt, wohin es sich seinen Weg bahnen kann, indem es allenthalben, wo die christliche Gesellschaft schwach wird, sich Krater öffnet für seinen Strom? Und wie dies seit Jahrhunderten fortgegangen ist, so wird es fortgehen bis die Zeit kommen wird, „wo das, was aufhält, hinweg geräumt ist.“ –
aus: Heinrich Eduard Manning, Kardinal, Der Antichrist oder die gegenwärtige Krise des heiligen Stuhls, im Lichte der Weissagung betrachtet, 1861, S. 54 – S. 59
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