F. X. Weninger SJ: Katholizismus, Protestantismus und Unglaube
Drittes Hauptstück
Vorurteile des Protestantismus
Wenn das alles wahr wäre, was ihr von der katholischen Kirche, von ihrem Glauben und von ihren Dienern gehört, dann allerdings, dann ließe es sich begreifen, warum ihr Anstand nehmt, zu ihrem Bekenntnis zurückzukehren. Doch das sind Entstellungen, Verleumdungen, Vorurteile. An wem liegt die Schuld, wenn ihr von diesen Vorurteilen umhüllt im Nebel dasteht, und die Wahrheit der katholischen Kirche nicht erkennt? Nicht an der Kirche, die man verleumdet, sondern an euch, die ihr diese Verleumdungen blindlings als wahr hinnehmt und euch die Mühe nicht nehmt zu Untersuchungen, was Wahres oder Falsches an der Sache sei.
Von der Wiege an haben eure Ammen euch Märchen erzählt; ihr habt ihnen dieselben nachgelallt, habt Dinge von den Katholiken geglaubt, über die jedes katholische Kind lacht – und siehe, eure Haare werden grau, und ihr glaubt diese Fabeln noch und nehmt selbe mit euch ins Grab.
So groß ist die Macht der Vorurteile, dass sie nicht selten selbst die besten Talente hindert, die Wahrheit zu erkennen, die doch gleichsam vor ihnen auf der Hand liegt. Das Vorurteil mag an und für sich geringfügig erscheinen, doch die Nachwirkung ist ungeheuer unglaublich.
Tausende von Gleichnissen aus dem Alltagsleben beleuchten das Gesagte.
Ein kleines Stück Tuch vor ein Fenster gehängt verfinstert am hellen Mittag eine Stube; eine leichte Wolke entzieht unseren Augen den Anblick der Sonne. Ein kleines Stück Holz über eine Eisenbahn hingelegt, treibt ganze Bahnzüge aus dem Gleis und stürzt sie in den Abgrund. Nur etwas Staub im Auge hindert dessen Sehkraft, und wäre es die eines Adlers. Dasselbe gilt von Vorurteilen, in Hinsicht auf die Erkenntnis der Wahrheit. Ist ein Mensch einmal von Vorurteilen befangen, so helfen oft die klarsten Beweisführungen nichts. Ihm dünkt das Licht Finsternis – der Lappen des Vorurteils hängt vor dem Auge seines Geistes.
Dieser heillose Einfluss von Vorurteilen macht sich aber wohl nirgends auffallender geltend, als in Hinsicht auf die katholische Kirche und ihre Lehre.
Man weiß nicht, worüber man sich dabei mehr wundern soll: über die Schamlosigkeit der Verleumder oder über die Geistesbeschränktheit derjenigen, die ihren Verleumdungen glauben und durch Jahrhunderte dieselben für so gewisse Wahrheit annehmen, dass sie sich nicht einmal die Mühe nehmen, dieselben zu prüfen. Ich hätte es wohl nie geglaubt, wie weit es in dieser Beziehung, namentlich in diesem Land, gekommen, wenn mich nicht meine eigene Erfahrung überzeugt hätte.
Die Verleumdungswut der Protestanten gegen die Katholiken
Diese Verleumdungswut von Seite der Protestanten gegen die Katholiken und andererseits die Ehrlichkeit der Katholiken gegen die Protestanten muss auf jeden ehrlichen Denker unter euch eine gewaltigen Eindruck zu Gunsten der katholischen Kirche machen. (1)
(1) Vgl. Segur, Vertrauliche Unterhaltungen über den heutigen Protestantismus, S. 112)
Nie hat irgendein katholischer Schriftsteller je euch Protestanten eine Lehrmeinung angedichtet, die ihr nicht wirklich lehrt oder gelehrt habt. Im Gegenteil aber gibt es wohl kaum eine einzige Unterscheidungslehre der katholischen Kirche, die ihr nicht zugleich, da ihr sie verworfen, völlig entstellt und der katholischen Kirche eine Ansicht angedichtet hättet, die nicht die ihre ist, sondern welche dieselbe gleichfalls verwirft. So, um nur einer Lehre zu erwähnen.
Die Kirche lehrt: Sie habe von Christo die Gewalt erhalten, Ablässe zu erteilen. Ihr verwerft diese Lehre, aber verdreht sie zugleich und sagt: Die Kirche lehre, sie habe die Gewalt, Ablässe zu verkaufen. Die Kirche lehrt: Ablass sei die Nachlassung der nach bereuter und getilgter Schuld zurückgebliebenen zeitlichen Strafen. Ihr sagt: Die katholische Kirche lehre, Ablass erteilen heiße nicht, die zeitlichen Strafen erlassen, sondern die Erlaubnis erteilen zu sündigen.
Ähnliches gilt von fast allen übrigen Unterscheidungslehren, wie dies aus meiner besonderen Widerlegung eurer religiösen und politischen Vorurteile sogleich deutlicher hervorgehen wird.
Ein Aufsatz im „Toronto Freeman“ über die Vorurteile der Protestanten
Bevor ich auf diese umständliche Widerlegung eurer hauptsächlichen Vorurteile eingehe, kann ich nicht umhin, einige Bemerkungen hier anzuführen, die ich vor nicht langer Zeit in einem vortrefflich gehaltenen Aufsatz im „Toronto Freeman“ in Bezug auf diesen Gegenstand las. Der Verfasser desselben äußert sich in folgender Weise:
Während Protestanten die Tradition verwerfen und vorgeben, sich einzig an das geschriebene Wort Gottes halten zu wollen, sind sie nichts desto weniger das Opfer der gehässigsten Tradition, welche dem Grundgesetz des ganzen Christentums schnurstracks zuwiderläuft. Diese uralte protestantische Tradition und Erblehre besteht in der absichtlichen Entstellung der katholischen Lehre, in Folge welcher sie der Kirche Lehren und Ansichten andichtet und unterschiebt, welche dieselbe im Gegenteil mit größtem Abscheu verwirft und von sich weist. Der großen Menge der Protestanten gilt die Autorität dieser frivolen Tradition so viel, als die Bibel selbst, und schmiedet die Kette, welche dieselben rettungslos an den Irrtum fesselt. Leider ist dieselbe auch die unerlässliche Bedingnis, um Protestanten in ihrem Bekenntnis festzuhalten.
„Nächst Gott ist Wahrheit allmächtig“, sagt Milton, „und der Irrtum wird kraftlos vor ihr.“ Wahrheit besitzt für den Menschen unnachahmbaren Reiz; sie ist das Leben seines Geistes und dessen Nahrung und zieht die Seele an sich, wie der Magnet das Eisen. Der Irrtum darf es nicht wagen mit der Wahrheit als solcher zu rechten, er muss aus Instinkt der Selbsterhaltung alles daran setzen, gegen den siegreichen Glanz der Wahrheit den schwarzen Mantel der Verleumdung auszuspannen, er muss sie entstellen, verdrehen und so unkenntlich machen. Er bedeckt ihr holdes Angesicht mit einer abenteuerlichen und Schrecken erregenden Maske.
Der Protestantismus war vom Anfang her sich der Notwendigkeit dieses Verfahrens wohl bewusst. Bei seinem Entstehen quoll er aus der unreinen Quelle der leidenschaftlichen Herzen seiner Gründer hervor und lebt seitdem von der Entstellung der Wahrheit. Wahrheit entsprach seinem Beginn und seiner Richtung nicht; die sprach und spricht über ihn als Irrlehre das Urteil der Verdammung. Verlästerung und Entstellung waren für ihn die natürlichen Lebensgefährten, er wählte dieselben somit auch instinktmäßig zu seinen Begleitern und Schirmern.
„Der Papst ist der Antichrist“, so lautete sein Schlachtruf. „Die Katholiken beten die Bilder an, sind Götzendiener und erweisen den Engeln und Heiligen göttliche Verehrung. Sie sind von Priestern am Galgenband geführt und diese geben ihnen für Geld die Erlaubnis zu sündigen und die Feinde der Kirche zu morden. Die Kirche von Rom ist das große Hindernis der Zivilisation der Welt, etc.
Es gibt unter den Protestanten auch edle Geister
Dies sind nur einige Sätze aus der langen Litanei der Verleumdungen, mit welcher der Protestantismus die katholische Kirche bekämpft. Sie bilden das stereotype Thema der Deklamationen und Tiraden, mit welchen die Prediger desselben, unausgesetzt Jahr aus Jahr ein, mit augenverdrehendem Mitleiden die Blindheit der Katholiken bedauern und ihre Zuhörer vor dem Missgeschick warnen, auch in dasselbe zu geraten. Doch es scheint, die Zeit sei herangerückt, wo der Menschengeist es nicht mehr dulden will, sich durch dergleichen Gaukelspiel warnen zu lassen.
Es gibt nun unter den Protestanten edle, kräftige Geister in großer Zahl, welche sich im Recht fühlen, selbst zu prüfen, und so wie sie dies im Ernst tun, erstrahlt auch vor ihnen die Wahrheit im vollen Mittagsglanz und sie schließen sich mit Entschiedenheit der Kirche an, von der nur angeerbtes Vorurteil sie früher trennte. Wir weisen auf zwei Männer hin, welche kürzlich zur katholischen Kirche aus den Reihen der Protestanten übergetreten, zu welchem Schritt kein weltliches Motiv sie bewegte, und die zugleich Männer von anerkanntem Talent sind und eine ausgezeichnete Stellung unter euch eingenommen.
Peter Burnett über die Unredlichkeit der Protestanten bei der Darlegung der katholischen Lehre
Es sind dies die Herren Burnett und Baine. Herr Burnett, ehemaliger Gouverneur von Oregon, angeregt durch den Eindruck, den die Feier des katholischen Gottesdienstes einst auf ihn machte, entschloss sich ernstlich, den Inhalt der katholischen und protestantischen Lehre aus den bewährtesten Schriften beider Bekenntnisse zu prüfen. Er staunte, als er bemerkte, wie unredlich die Protestanten bei der Darlegung der katholischen Lehre sich benahmen, während er gerade das Gegenteil bei den katholischen Schriftstellern in Hinsicht auf die protestantischen Lehrsätze gewahrte. Hören wir was er selbst über den Eindruck sagt, den dieses Benehmen auf ihn machte:
Das System der Verdrehung der katholischen Lehre und Gebräuche, das ich so allgemein bei protestantischen Schriftstellern vorherrschend fand, rief in mir so manche Fragen hervor. Ich fragte mich: Warum erheischte wohl der Erfolg des Protestantismus eine solche Art von Beweisführung? Warum forderte die Wahrheit eine solche Stütze? Warum wurde ein solcher Weg zur Verteidigung eines angeblich richtigen Systems gewählt? Warum ist er annoch notwendig, um demselben Geltung zu verschaffen? Sind schlechte Gründe besser als gute? Ist Entstellung besser bei Verteidigung einer guten Sache, als Aufrichtigkeit und Wahrheit?
Wenn die Lehrsätze der katholischen Kirche wirklich so falsch, irrig und absurd sind, brauchte es wohl solcher Übertreibungen, um sie zu verwerfen? Ist es wirklich notwendig, dass man den Irrtum über Gebühr schwärze, um ihn verächtlich und verwerflich zu machen?
Ist es wirklich erforderlich, vorerst den Geist mit Unwahrheit zu tränken, damit er besser bereitet werde, die Wahrheit in sich aufzunehmen? Säet man Unkraut aus, damit dann gute Frucht auf dem Feld wachse? Ist es notwendig, um anderen Liebe zu empfehlen, dass man dieselbe vorerst verletze? Und ist es notwendig, um die Unwahrheit niederzudrücken, dass man vorerst selbst ihren Nutzen und ihre Notwendigkeit praktisch anerkenne? Leider ist es nur zu oft die Praxis, dass man gegen die Lüge mit Lügen zu Felde zieht und, wie man zu sagen pflegt, den Teufel mit Feuer zu vertreiben wünscht.
Allein, ich frage: Ist das Christentum? Ist das wahre Philosophie? Oder im Gegenteil, ist dies nicht das Prinzip der Rache, die Praxis der Wilden und der Instinkt der Wölfe und Tiger? Wenn man den bösen Geist, ein Geist der Lüge ist, und seine Sache bekämpfen will, ist es nicht besser, ihn mit der entgegen gesetzten Waffe zu bekämpfen? Soll man nicht überhaupt lieber Böses mit Gutem vergelten? Woher mag wohl die Notwendigkeit, anders zu tun, entspringen? Ist es nicht die geschlossene Einheit, Kraft und Schönheit des katholischen Systems, welche dasselbe logisch unverletzbar macht?
Ist es nicht der Umstand, dass eben der katholische Lehrbegriff das Christentum selbst ist, wie es ist, und nicht wie Leidenschaft, Interesse und Stolz dasselbe wünscht, was zu solchen Entstellungen die Gegner desselben antreibt? Ja wohl, das war der Beweggrund, der alle die Neuerer, Fanatiker und Sektierer, von Simon Magus an bis auf unsere Zeit, zu Verleumdern der Kirche macht.
A. C. Baine über die unredliche Verfahrensweise der Protestanten
Ebenso kräftig äußert über diese Verfahrensweise sich Richter Baine von Kalifornien in seinem herrlichen Buch ‚On the Harmonious Relations between Divine Faith and Natural Religion‘. (https://www.amazon.de/-/en/C-Baine/dp/1165935821)
Er sagt:
Es gilt als Grundsatz der Rechtslehre, dass niemand, auch nicht der verruchteste Verbrecher, ungehört verdammt werde, mögen dessen Ankläger noch so laut dessen Schuld ausschreien, und möge das Verbrechen, dessen sie ihn beschuldigen, noch so abscheulich sein. Ein Richter, der einen Mann bloß auf eine lärmende Anklage hin, ungehört verurteilen wollte, würde ohne Zweifel ebenso ungerecht als grausam handeln. Die katholische Kirche hat deshalb Recht und hat allen Grund nachdrücklich zu erklären, dass, wer immer es wagt, sie ihrer Lehre und Gebräuche wegen zu richten und zu verdammen, ohne sie selbst befragt und gehört zu haben, was sie lehre und zu tun vorschreibe, ungerecht gegen sie und gegen sich selbst handle.
So klagt man dieselbe seit Jahrhunderten an, sie lehre im Widerspruch mit dem, was Vernunft, Gemeinsinn und Erfahrung als wahr behaupten; – und Millionen und Millionen denken so und klagen sie an, ohne je einen Katechismus derselben gesehen oder sonst irgendein bewährtes Lehrbuch derselben studiert zu haben! Ja, ich frage geradezu alle, die heutzutage die Kirche und ihre Lehre verwerfen, woher sie ihre Beweggründe genommen, ob sie es tun, weil sie katholische Schriftsteller, oder nicht vielmehr, weil sie ausschließlich nur die Schriften ihrer Feinde und Verleumder gelesen?
Ankündigung der Betrachtung über religiöse und politische Vorurteile der Protestanten
Ich will nun in gedrängter Kürze die Vorurteile, welche besonders hier in Amerika gangbar sind, beleuchten, um nachzuweisen, dass es ebenso viele Entstellungen und Verleumdungen sind. Wir können dieselben füglich in religiöse und politische Vorurteile abteilen, oder in Vorurteile der Amerikaner als Protestanten und als Bürger betrachtet. Der Gang dieser Darstellung und Widerlegung verlangt, dass ich der Kürze wegen zeitweise auf Bemerkungen zurückweise, die ich bereits bei der Abhandlung über den Charakter des Protestantismus zu machen Gelegenheit hatte. –
aus: Franz Xaver Weninger, Katholizismus, Protestantismus und Unglaube. Ein Aufruf an alle zur Rückkehr zu Christentum und Kirche, 1869. S. 113 – S. 119
Überschriften sind hinzugefügt.
Folgebeitrag:
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- F. X. Weniger, Katholizismus, Protestantismus und Unglaube – Inhaltsangabe des Buches
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