Liberalismus und Reformkatholizismus
Es gibt nur ein Christentum und eine Kirche
Es gibt nur ein Christentum, keinerlei Abarten, keinerlei Sondergestaltungen, keinerlei Neubildungen. Und dieses Christentum verpflichtet alle ohne Ausnahmen in gleicher Weise und nach seinem ganzen Umfang, nicht bloß den Mönch in der Zelle und den Landmann am Sonntag in der Kirche, sondern auch den Käufer und Verkäufer auf dem Markt und an der Börse, den Redakteur an seinem Schreibtisch… Denn alle für ihre Person haben an ihrem Heil zu arbeiten, nicht bloß in der Kirche, sondern ebenso auch in ihrem Beruf und in ihrer öffentlichen Stellung. Und die ganze Gesellschaft und der Staat und die ganze Erde samt allem, was sie füllt, ist Gottes oder soll es wenigstens werden, und soll somit so gestaltet werden, daß sie Gottes Ordnung erfülle und der Menschheit den Weg zum Heile ermögliche. Das Heil aber ist uns in Christus gegeben, und das Christentum ist nicht eine bloße Philosophie, sondern die Religion des Heiles, und somit die eine gleiche Religion für alle einzelnen und für die Gesamtheit.
Wenn dem so ist, dann dürfen wir wohl unserer Zeit die Mahnung zurufen, sie möge die Frage über das Wesen des Christentums mit größerer Mäßigung behandeln. Von diesen Gegenständen, sagt der heilige Hilarius, sollte man nur mit Zittern und mit Beben sprechen. Das viele Reden über Dinge, die den Glauben angehen, meint Gregor von Nazianz – und er kann sich auf traurige Erfahrungen berufen – ist überhaupt von Übel. Seitdem der Skeptizismus dieses Unheil herbeigeführt hat, hat die Oberflächlichkeit in Behandlung der heiligsten Angelegenheiten überhand genommen. Ekel bei den einen, Vernachlässigung des Lebens und der christlichen Pflichten bei den anderen hervorgerufen. So kommt es, sagt abermals Hilarius, daß Leute vom Glauben reden, die selber keinen Glauben haben, und daß sie von Gott sprechen nicht nach der Richtschnur, die Gott selber gegeben hat, sondern nach dem Gutdünken ihres eigenen Willens.
Aber, da es sich um Lehren handelt, die zum Heile gehören, kann hier keine Irrung geduldet werden. Der richtige Glaube aber kann nicht bestehen, wenn er sich nicht an die Richtschnur für den Glauben hält. Dies die Lehre des heiligen Ambrosius. Diese Richtschnur findet sich im Evangelium. Das, was alle Nationen unbedingt glauben müssen, das ist die eine und bestimmte Lehre, die von Christus eingesetzt ist. Diese Regel erleidet keine Bestreitung. Was von Christus kommt und uns durch seine Begleiter übermittelt worden ist, das ist die Regel der Wahrheit. Willst du ein Christ sein, so glaube, was überliefert ist. Die einzige Grundlage des Christentums ist Christus. So bereits Tertullian. Und wenn die Schrift von der göttlichen Offenbarung im allgemeinen befiehlt: Tuet nichts hinzu und nehmet nichts hinweg (Deut. 4,2; Apk. 22, 19) so wendet der heilige Leo das auf unsere Frage an und sagt: Das ist der katholische Glaube, zu dem man nichts hinzutun, von dem man nichts wegnehmen kann.
Wer ernstlich das Wort Christentum ausspricht und weiß, was er damit sagen soll, der spricht mit unumgänglicher Notwendigkeit das Wort Kirche aus. Und nur wer das Wort Kirche spricht, redet in Wahrheit vom Christentum.
Gegen diese unumstößliche Wahrheit erhebt man häufig, sei es aus begreiflichem Mitleid mit den Verirrten, sei es, um für die eigenen Nebenabsichten einen Ausweg zu finden, den allbekannten Einwand, man könne denn doch denen, die außerhalb der katholischen Kirche stehen, nicht ohne weiteres alles und jedes Christentum absprechen. Das soll auch nicht gesagt sein, nur muss das richtig verstanden werden.
Was die Personen betrifft, so wird sich jeder, dem sein eigenes Seelenheil lieb ist, hüten, ein Urteil auszusprechen. Man müsste auch an der Gnade Gottes und an der Menschheit verzweifelt haben, und müsste ohne alle Erfahrung sein, wenn man nicht zugäbe, daß außerhalb der Kirche viele in gutem Glauben am Christentum – und damit auch an der Kirche – festhalten, weil sie zwar so denken und so leben, wie man es sie gelehrt hat, weil sie aber gleichwohl in ihrem Herzen die Wahrheit umklammern, obschon sie diese höchstens dunkel ahnen. Freilich kann man sich auch die traurige Tatsache nicht verhehlen, daß tausende – es ist leider nicht übertrieben – nicht einmal mehr an die Gottheit Christi glauben.
Immer und überall, von welcher Seite wir an das Christentum herantreten, das gleiche Ergebnis. Sobald die Kirche aufgelöst ist, geht das Christentum mehr und mehr seiner Auflösung entgegen. Wer immer das Wort Christentum erfaßt nach dem Sinn seines göttlichen Stifters, der wird an die Kirche gewiesen. Kein Christentum außer der Kirche. Mit dem Christentum ist die Kirche gegeben. Über diese beiden Grundwahrheiten führt keine menschliche Weisheit hinweg, wenn sie anders das Christentum im Ernst festhalten will. –
aus: Albert Maria Weiß, Liberalismus und Christentum, 1914, S. 235-242