1. BRIEF DES HL. JOHANNES KAP. 5 VERS 13-17
Die Bezeugung des Glaubens

Die Wirkung in der Kraft des Gebetes

Die Lebenskraft des Gebetes

Auch die Leser des Briefes fühlen dieses beglückende Leben in sich, von dem der Jünger, der einst an der Brust Jesu geruht und unter seinem Kreuz gestanden hat, so erfüllt ist, dass er es allein für des Namens Leben wert hält. Man braucht sie nur an diesen ihren kostbaren Besitz zu erinnern, der ja für sie keineswegs bloß eine dogmatische Schulerinnerung ist: „Das habe ich euch geschrieben, damit ihr wisset“ – damit das Bewusstsein in euch gegenüber allen Verführungskünsten der Irrlehrer und deren schönen Worten von einer vermeintlich noch höheren Erkenntnis ohne den Sohn Gottes recht klar und fest sei – „dass ihr ewiges Leben habt“. Und nur ihr besitzt es, die ihr glaubt an den Namen des Sohnes Gottes, des einzigen Vermittlers dieses Lebens. Dieses „ewige Leben“ ist aber keineswegs erst ein in der Ewigkeit, d. h. nach dem Tode zu erwartendes Leben. Wir Christen besitzen es schon jetzt, und es zeigt seine Welt überwindende Wirkung schon jetzt besonders in der Kraft des Gebetes. Denn auf Grund dieses Lebens, d. h. dieser innigen Lebensgemeinschaft mit Christus und Gott selbst „haben wir die freudige Zuversicht zu ihm, dass er auf uns hört, wenn wir um etwas seinem Willen gemäß bitten“.

Der Grundinhalt jedes wirklichen Christengebetes

„Seinem Willen gemäß“ ist ungefähr dasselbe wie „in seinem Namen“ (vgl. in der Abschiedsrede Jesu 14, 13 u.a.O.). Das heißt, nicht nur unter Berufung auf Jesus und dessen Lebenszweck bitten, sondern auch um etwas, was diesem Lebenszweck entspricht, also schließlich und letztlich um das übernatürliche Leben selbst, wie Jesus ja von sich gesagt hat: „Ich bin gekommen, dass sie Leben haben und damit sie es in überreichem Maße haben (Joh. 10, 10). Dieses ist der immanente Zweck und der eigentliche Grundinhalt jedes wirklichen Christengebetes. Denn wenn ich auch um irgend ein konkretes Gut bete, und selbst um ein solches der natürlichen Ordnung, z. B. um Genesung von einer Krankheit, so geschieht das unter der selbstverständlichen Voraussetzung, dass die Erhörung dieser Bitte „seinem Willen gemäß“ sein möge, das heißt, dass ihr Gegenstand eingereiht und untergeordnet sein solle unter den übernatürlichen Lebensplan, den Gott für mich hat. Insofern also ist jedes Gebet „im Namen Jesu“ eine Bitte um „Leben“, um die Weiterführung und Vollendung meines übernatürlichen Lebens innerhalb und durch die mannigfaltigen Wechselfälle dieses irdischen Lebens. Darum aber „wissen wir auch, dass er auf uns hört“, d. h. dass er jedes Gebet in diesem Sinne erhört. Kein Vaterunser oder Ave Maria, ja kein sei es in Worten gekleideter oder wortloser Aufblick zu Gott, wenn er nur aus der Tiefe der Seele herauf kam, bleibt ohne seine Lebenswirkung für den Beter.

Unsere nützlichste Tätigkeit ist das Gebet

Das ist so sicher, dass der Apostel schreiben kann: Wir wissen. Dass wir die Erfüllung der Bitten (wörtlich: „die Bitten, die wir an ihn gerichtet haben“) bereits haben. Es ist gut, dass der Apostel das noch dazu geschrieben hat. Denn wenn Gott manchmal – und das ist ja sehr oft der Fall – unsere konkreten Wünsche nicht erfüllt, oder wenigstens deren Erfüllung verschiebt, dann meinen wir leicht, er habe unser Gebet nicht erhört. Höchstens trösten wir uns mit der Hoffnung, er werde es vielleicht zu gegebener Zeit noch erhören. Aber das ist nicht richtig: Er hat bereits auf dich gehört. Es ist bereits neues Leben in deine Seele geflossen, auch wenn du dessen Früchte nicht sofort wahrnimmst. Alle Früchte brauchen Zeit zum Wachsen, bis aus dem kaum sichtbaren Samen der Baum heraus gewachsen ist. Es ist schon wahr: Unsere nützlichste Tätigkeit ist das Gebet. Und wenn einer den ganzen Tag in seinem Beruf gearbeitet hat und vielleicht tatsächlich recht vergeblich gearbeitet hat, wenn der abends z. B. noch seinen Rosenkranz betet, nicht nur mechanisch und gewohnheitsgemäß. Sondern aus der Seele heraus, dann hat er doch heute etwas getan.

Mit dem Gebet auf des Bruders Heil einwirken

Aber nicht nur für den Beter persönlich ist es die Frucht bringendste Tätigkeit. Auch für andere: „Wenn einer seinen Bruder eine Sünde begehen sieht, die nicht zum Tode ist, so soll er Fürbitte einlegen, und er wird ihm Leben geben, denen, die nicht zum Tode sündigen.“ „Er wird ihm Leben geben.“ Manche meinen, „er“ sei hier Gott. Allein solch ein Wechsel des Subjekts ist in keiner Weise angedeutet. Es ist derselbe „er“, der Fürbitte einlegt. In seinem Geist besitzt der Christ ein Mittel, unmittelbar auf seinen Bruder zu dessen Heil einzuwirken. Was er mit Worten nicht erreicht, was sein gutes Beispiel nicht zuwege bringt, das vermag sein Gebet. Das Gebet ist also das wichtigste Hilfsmittel jedes Seelsorgers. Damit dringt er durch Türen hindurch, die ihm sonst verschlossen bleiben. Es ist natürlich auch das wichtigste Mittel für jeden Vater, jede Mutter, überhaupt jeden Menschen, der um die Seele eines anderen Menschen ringt. Freilich: eine Einschränkung macht der Apostel: „eine Sünde, die nicht zum Tode ist.“ „Es gibt eine Sünde zum Tode. Nicht von der sage ich, dass er Fürbitte einlegen soll.“ Was der heilige Johannes damit meint, ist für uns nicht mehr leicht zu bestimmen. Andererseits muss es seinen ersten Lesern von vorne herein klar gewesen sein. Denn er will ihnen einen praktischen Fingerzeig geben für ihr tägliches Gebet. Den gibt man aber nicht durch mysteriöse Andeutungen.

Was bedeutet „die Sünde zum Tode“

Dass der Apostel hier nicht die spätere moraltheologische Unterscheidung zwischen Todsünden und lässlichen Sünden vor Augen hat, liegt auf der Hand. Denn er kann unmöglich abraten, etwa für einen, der irgend einen Wertgegenstand gestohlen oder einmal etwas Unkeusches getan hat, zu beten, da doch solche Sünder erfahrungsgemäß sich oft wieder bekehren. Deshalb entspricht es ja gerade seiner Mahnung, für solche besonders zu beten. Am ehesten möchte man an die Sünde wider den Heiligen Geist denken (vgl. Matth. 12, 31ff). Aber wenn auch inhaltlich die Sünde, die er meint, sich damit decken bzw. zu deren Genus gehören muss, da es die einzige Sünde ist, die von Natur aus die Bekehrung ohne ein besonderes Wunder der Gnade ausschließt, so hat er sie eben doch nicht als solche bezeichnet, meint also ohne Zweifel eine ganz eigene Sünde. Übrigens kann ja schon aus dem Grunde hier nicht einfach von der Sünde gegen den Heiligen Geist die Rede sein, weil nur Gott festzustellen vermag, ob diese Sünde im Inneren eines Menschen vorliegt. Wenn also die Leser selber das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein der „Sünde zum Tode“ beurteilen sollen, und wenn offenbar voraus gesetzt wird, dass dieses Urteil leicht zu fällen ist, weil die Sünde klar zu Tage liegt, so kann nur eine ganz offenkundige Handlung bzw. ein öffentlich bekannter Zustand gemeint sein. Nun ist die ganze Absicht des Briefes, die Leser vor den Verführungen der Irrlehrer zu warnen, die „von uns ausgegangen sind, aber nicht zu uns gehörten“ (2, 19). Von den echten Christen aber, d. h. denen, „die da glauben an den Namen des Sohnes Gottes“ (5, 13), heißt es: „Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben übergesiedelt sind“ (3, 14), die einzige Stelle, wo der Verfasser von „dem Tode“ spricht, d. i. dem Zustand, in dem die ungläubige und lieblose Welt sich befindet im Gegensatz zu den Christen, die in dieser Welt des Todes und der Finsternis eine neue Lichtgemeinde bilden. Die „Sünde zum Tode“ kann also in nichts anderem bestehen als in der Rückkehr in diese Welt des Todes, d. h. im Abfall vom Glauben an Jesus, den Sohn Gottes, und im Austritt aus der Kirche (vgl. Hebr. 6, 4-6).

Die Bedingung für das Fürbittgebet

Freilich steht noch nicht bei jedem einzelnen Abtrünnigen die Sünde wider den Heiligen Geist fest. Denn auch Abgefallene und aus der Kirche Ausgetretene sind schon wieder zurück gekehrt. Aber erstens gibt der Apostel hier ja nicht eine allgemeine und für alle Zeiten geltende Vorschrift, sondern eine solche an seine damaligen Leser gegenüber den damals sie beunruhigenden Irrlehrern. Und diese Irrlehrer hatten sich offenbar nicht nur aus einem gewissen Leichtsinn oder in momentaner Verstimmung von der Kirche getrennt, von der Kirche, in der damals noch das vom heiligen Geist erzeugte übernatürliche Leben in voller Frische und Kraftentfaltung flutete, so dass es jeden sozusagen mitreißen musste, der sich nicht bewusst dagegen stemmte.

Zweitens ist es ja auch nicht ein eigentliches apodiktisches Verbot, was der Apostel hier gibt, nie und unter keinen Umständen für einen Abgefallenen zu beten. Es ist vielmehr eine Einschränkung, die er notwendig machen muss, gerade weil er soeben so allgemein und bedingungslos von der Leben spendenden Kraft der Fürbitte gesprochen hat. Denn an eine Bedingung ist diese Zuversicht naturgemäß gebunden: dass der, den ich durch mein Gebet neu beleben will, wenigstens noch in irgend einer Verbindung mit Christus, der Quelle des Lebens, steht und nicht gänzlich von ihm losgerissen, also gänzlich tot ist. Gewiss vermag Gott bzw. Christus auch das Wunder der geistlichen Totenerweckung zu verrichten (vgl. Joh. 5, 21ff). Aber ob er es zum zweiten Mal an ein und demselben Menschen verrichtet, das ist eine weitere Frage, die zum mindesten nicht mit der allgemeinen Zuversicht bejaht werden kann, mit der der Verfasser soeben die Gläubigen aufgefordert hat, für den sündigen Bruder zu beten (vgl. Hebr. 6, 4-6). Darum muss er von dieser allgemeinen Zusicherung die Sünde zum Tod ausnehmen, wenn er nicht durch falsche Versicherungen seine Leser in die Irre führen will. Es ist auch so noch ein reiches Feld der Betätigung für ihr Gebet vorhanden. „Jede Ungerechtigkeit ist Sünde, und es gibt Sünde, die nicht zum Tode ist.“ (…) Für alle diese Sünder können und sollen sie beten in der Gewissheit, dass ihr Gebet nicht vergeblich ist.

Die mangelnde Wertschätzung des Gebetes

Das Gebet ist eben doch eine Macht, die noch viel zu wenig gekannt und geschätzt wird. Wenn da irgendwo ein Kranker in seiner einsamen Stube liegt, fernab vom Leben und dessen Arbeit, oder wenn da in einer Dachkammer ein altes gelähmtes Mütterchen sitzt, und beide können nur noch beten, und ihre einzige Beschäftigung besteht noch darin, die abgegriffenen Perlen ihres Rosenkranzes durch die Finger gleiten zu lassen und dabei immer und immer wieder ihr Vaterunser und ihr Ave Maria zu murmeln: Das sind zwei Lebensspender. Und erst am Jüngsten Tag wird es offenbar werden, welch ein Fülle von Leben sie gewirkt haben. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIII, 1941, S. 525– S. 528