1. BRIEF DES HL. JOHANNES KAP. 5 VERS 18-21
Die Bezeugung des Glaubens

Unsere Lebensgemeinschaft mit Gott durch Christus sichert uns vor der Berührung des Bösen

Es gibt Sünde, mannigfaltige Sünde, auch unter den echten Christen. Immer wieder muss der Apostel dieses Tatsache feststellen (vgl. 1, 7ff), nicht nur gegenüber der häretischen Leugnung der Sünde von Seiten der Irrlehrer, sondern auch gegenüber dem Leichtsinn oberflächlicher Christen, die im Bewusstsein der Erlöstheit meinen, sich nun ohne Selbstkontrolle gehen lassen zu dürfen. Freilich auch das muss immer wieder betont werden, dass das Christentum eigentlich die Sünde ausschließt. „Wir wissen, dass jeder, der aus Gott gezeugt (oder geboren) ist, nicht sündigt.“ Dieses „Wir wissen“ häuft sich in den folgenden Versen. Es kommt dem Apostel darauf an, am Schluss seines Briefes die Hauptwahrheit des Christentums recht sozusagen ins Bewusstsein zu hämmern, dass wir in unserer durch Christus bewirkten Gemeinschaft mit dem wahrhaftigen Gott gesichert sind gegen Teufel und Welt und das ewige Leben besitzen. „Jeder, der aus Gott gezeugt ist, sündigt nicht.“

Der Wiedergeborene hält an Gott fest

Also ist der Sinn: Der durch die Zeugung aus Gott zum Kind Gottes gewordene Mensch sündigt nicht mehr. Wohl wäre und ist das an sich noch möglich. Denn die sündige Natur bleibt trotz des Aktes der Wiedergeburt bestehen. Aber der, an dem dieser Akt einmal vollzogen worden ist, wer einmal wieder geboren worden ist, der hält fest an Gott. Denn dieses Festhalten an Gott mittels des freien Willen ist notwendig, da ja durch die Wiedergeburt kein physisches Band zwischen Mensch und Gott geknüpft ist, sondern ein Gnadenband, zu dessen Erhaltung das Zusammenwirken von freiem Willen und Gnade notwendig ist (vgl. 4, 11 und Joh. 15, 3). Wer aber so an Gott festhält, der ist geschützt vor „dem Bösen“, nämlich dem Teufel (vgl. 2, 13 u. 14). An den kann der Teufel nicht einmal rühren, geschweige denn, ihn in seine Gewalt bringen. In diesem, mehr abgeschwächten Sinn von anrühren (vgl. dagegen Joh. 20, 17) ist hier das griechische Wort háptesthai zu nehmen, weil dadurch erst der ganze Gegensatz zu dem im folgenden Vers über die Welt Gesagten zum Ausdruck kommt.

Der große Unterschied zwischen den Christen und der Welt

Darin besteht eben der große Unterschied zwischen den Christen und der Welt: „Wir wissen, dass wir aus Gott sind und dass die ganze Welt im Bösen liegt.“ Der Böse = der Teufel ist wieder gemeint, nicht das Böse. Die ganze Welt liegt im Machtbereich des Bösen, oder auch, sie beruht auf ihm, d. h. sie ist ganz in seiner Gewalt. Da ist es freilich merkwürdig, dass die Christen, die doch als Menschen früher auch ganz in der Gewalt des Bösen gewesen sind, sich seinem Machtbereich so gänzlich zu entziehen vermochten, dass er sie nun nicht einmal mehr anrühren kann. Das haben sie auch keineswegs aus sich fertig gebracht. Sondern „wir wissen, dass der Sohn Gottes gekommen ist und uns einen Sinn gegeben hat, dass wir den Wahrhaftigen erkennen.“ Das griechische Wort diánoia heißt ursprünglich nicht „die Denkart oder Gesinnung“, sondern bezeichnet das Organ der Wahrnehmung. Um Gott zu erkennen, richtig zu erkennen, bedarf es nämlich eines ganz neuen übernatürlichen Organs, das die Menschen der Welt nicht besitzen. Und dieses Organ, diesen neuen Sinn hat der Sohn Gottes uns geschenkt, und zwar zum dauernden Geschenk gemacht (griechisches Perfekt), so dass wir jetzt tatsächlich „den Wahrhaftigen“ erkennen. „Der Wahrhaftige“ ist kein anderer als Gott selbst.

Wir sind in dem Wahrhaftigen

Und zwar ist nach johanneischem Sprachgebrauch mit diesen Ausdruck ein Doppeltes von ihm ausgesagt: Erstens, dass er der einzige wahre wirkliche Gott ist zum Unterschied nicht nur von den falschen Göttern der Heiden, sondern auch von der falschen Gottesvorstellung, die die hellenistische religiöse Spekulation und besonders die Phantasie der Irrlehrer vom göttlichen Wesen sich bildet. Zweitens besagt der Ausdruck, dass dieser Gott zugleich ein sich offenbarender Gott ist und in denen, die ihn richtig erkennen, eben diese Erkenntnis bewirkt. Durch diese Gott gewirkte Erkenntnis wird aber auch unmittelbar die Lebensverbindung mit Gott bewirkt. Deshalb fährt der Apostel weiter: „Und wir sind in dem Wahrhaftigen.“ …

Mit „wir sind in dem Wahrhaftigen“ ist also Gott gemeint entsprechend dem kurz vorher gehenden: Wir erkennen den Wahrhaftigen. „In seinem Sohn Jesus Christus“ bezeichnet das Mittel, durch das wir zur Vereinigung mit dem Wahrhaftigen, nämlich mit Gott, gelangen. Durch die Lebensgemeinschaft mit Jesus Christus kommen wir zur Gemeinschaft mit Gott selbst. Aus dem angeführten Grund schließen nun allerdings viele Neuere, dass auch in dem folgenden Satz „Dieser ist der wahre Gott und ewiges Leben“ nicht Christus Subjekt sein könne, sondern nur wiederum Gott. Denn auch hier sei die Annahme kaum tragbar, Johannes habe, nachdem er zuvor zweimal mit dem „Wahrhaftigen“ Gott bezeichnet habe, nun plötzlich den Gedanken gewechselt und nenne Christus selbst den wahrhaftigen Gott. Das Pronomen „dieser“ sei also nicht auf das unmittelbar vorher gehende „Jesus Christus“ zu beziehen, sondern auf das weiter entfernt stehende „in dem Wahrhaftigen“…

Alle Gründe sprechen dafür, das Pronomen „dieser“ am Anfang des Satzes, wie es auch an sich am natürlichsten ist, auf das unmittelbar vorher gehende „Jesus Christus“ zu beziehen und bei der Erklärung der Kirchenväter und sämtlicher älteren Exegeten zu verbleiben, wonach der Verfasser in diesem Schreiben ein klares unumwundenes Bekenntnis der absoluten Gottheit und Wesensidentität Jesu Christi mit Gott dem Vater, dem Gott schlechthin, ausspricht.

Schlussmahnung: Hütet euch vor den Götzen

Etwas abrupt, aber im Zusammenhang mit den kurz vorher gehenden Sätzen um so wirkungsvoller kommt die Schlussmahnung: „Kinder, hütet euch vor den Götzen.“ Das griechische Wort für Götze (eídolon) heißt in klassischer Sprache das Bild, das Abbild im Gegensatz zu der Wirklichkeit. Deshalb kann es geradezu den Schatten bezeichnen und wird von Plato zur Bezeichnung der Einzeldinge verwendet im Gegensatz zu der allein wirklichen Idee. Die Septuaginta machte aus diesem Wort den Namen für die Götzenbilder der Heiden, und zwar sowohl für die Abbilder der Götzen als auch für die Götzen selbst, um deren gänzliche Wesenlosigkeit und Nichtigkeit auszudrücken. In diesem Sinne ging es auch ins Neue Testament über.

Wenn der heilige Johannes hier vor den eídola warnt, so meint er zwar ohne Zweifel auch die heidnischen Götzen, deren gleißender Kult auch für die aus dem Heidentum kommenden Christen immer noch eine Gefahr bedeuten konnte, wie auch aus anderen Stellen des Neuen Testamentes hervor geht (vgl. 1. Kor. 5, 10ff; Gal. 5, 20M Eph. 5,5; Kol. 3, 5; 1. Petr. 4, 3; Apok. 2, 14; 9, 20 u.a.O.). Aber die in so eigentümlicher Weise angehängte Warnung wird die Leser seines Briefes, die er im Verlauf des Briefes wiederholt vor den Wahngebilden der Irrlehrer gewarnt hat, besonders darauf aufmerksam machen sollen, dass auch der Gott der Gnostiker, wie immer deren Phantasie ihn ausmalt, nur ein wesenloses Gebilde ist.

Nur der Gott ist der wahrhaftige, den Christus uns vermittelt hat. Ist Christus doch selber und allein „die Wahrheit“, d. h. der fassbar und greifbar in Erscheinung getretene Gott. So bietet dieses kurze Warnungssätzchen auch uns noch reichlichen Stoff zum Nachdenken. Nicht was die Menschen sich über Gott gedacht haben oder ausdenken können, seien es geistreiche Philosophen, seien es fromme Betrachter, nicht das ist Gott. Sondern so ist Gott in Wirklichkeit und nur so, wie er sich unmittelbar in Christus selbst, in dem Christus der vom Heiligen Geist inspirierten Evangelien geoffenbart hat. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIII, 1941, S. 528– S. 533