P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung
IV. Von der Übertretung der Gebote oder von der Sünde
§ 2. Von den verschiedenen Gattungen der Sünde
1. Von den sieben Hauptsünden
Wann sündigt man durch Neid?
Wenn man dem Nächsten das Gute mißgönnt und traurig ist, weil es ihm gut geht, oder sich freut, weil es ihm übel geht.
Der Neidische ist mißvergnügt darüber, daß der Nächste dieses oder jenes Gute besitzt, weil er selbst dadurch weniger ausgezeichnet dasteht oder weiter zurückstehen muss, als es seiner Eigenliebe angenehm ist. Während er so über das Glück des Nächsten trauert, gereicht es ihm zur Freude, wenn derselbe ein Mißgeschick erleidet, namentlich wenn er jenes Gut verliert, was dem Neidischen wie ein Dorn im Auge ist. Der Neid entspringt also aus dem ungeordneten Verlangen, über andere hervor zu ragen oder ihnen wenigstens glich zu stehen.
Entstände die Traurigkeit über das Gute des Nächsten und die Freude darüber, dass er desselben verlustig geht, bloß aus der gegründeten Befürchtung, der Nächste möchte das betreffende Gute zu unserm oder anderer Schaden mißbrauchen, so wäre dies kein Neid und an sich nicht sündhaft. Auch macht man sich des Neides nicht schuldig, wenn man es bedauert, das Gute nicht zu besitzen, das man am Nächsten wahr nimmt, dabei aber dasselbe jenem in keiner Weise mißgönnt. Ebenso ist es nicht unerlaubt, auf die besagte Weise betrübt zu sein, dass man selbst nicht so fromm und tugendhaft ist wie andere, die sich durch Frömmigkeit undTugend auszeichnen: eine solche Betrübnis ist vielmehr ein lobenswerter Wetteifer, ein sogenannter heiliger Neid.
Die Leidenschaft des Neides erzeugt gleichfalls viele und schwere Sünden wider Gott und den Nächsten. Der Neidische beweist sich in der Regel undankbar gegen Gott, indem er nicht auf die Wohltaten sieht, die er selbst aus dessen Hand empfangen hat, sondern mit scheelen Augen, bloß auf das Gute schaut, das dem Nächsten zuteil geworden: „sein Auge ist schalkhaft“ (er ist böse), weil Gott auch gegen andere gut ist. (Matth. 20, 15) Nicht selten läßt sich deshalb der Neidische verleiten, gegen Gott, den unendlich weisen und gerechten Verteiler der zeitlichen Güter, zu murren und zu klagen. In seinen Augen verliert das Gute, das Gott ihm erwiesen, gewissermaßen allen Wert, weil der Nächste ebenso viel oder noch mehr empfing.
Im Verkehr mit dem Nebenmenschen verleitet der Neid namentlich zu Ohrenbläserei und Verleumdung. Dieses sind die Mittel, deren man sich mit Vorliebe bedient, um den Mitmenschen der Ehre, die ihm gezollt wird, des Vertrauens, das er genießt, des Amtes oder der Würde, die er bekleidet, selbst des zeitlichen Vorteils, der damit verbunden ist, auf einmal oder nach und nach zu berauben. So verleumden Kore, Dathan und Abiron den Moses, welchen sie um seines Vorranges willen beneiden. Ihn, den die Hl. Schrift selbst „des sanftesten aller Menschen“ (4. Mos. 12, 3) nennt, klagten sie vor allem Volk der Grausamkeit und Herrschsucht an und sprachen zu ihm: „Ist`s dir zu wenig, daß du uns heraus geführt aus einem Lande, das von Milch und Honig floß (welche Verblendung!), um uns zu töten in der Wüste; willst du auch noch über uns herrschen?“ (4. Mos. 16, 13) Selbstverständlich schrickt der Neidische auch vor andern ungerechten Mitteln nicht zurück, um seinem Nebenmenschen die Güter zu entreißen, derentwegen er ihn beneidet. Nicht selten verfolgt er ihn mit tödlichem Hasse. So handelte Kain gegen seinen schuldlosen Bruder Abel, so die Söhne Jakobs gegen ihren Bruder Joseph, so der König Saul gegen David, so ganz besonders die Pharisäer gegen Jesus, die in ihrem Neid nicht eher ruhten, als bis sie ihn, den Allerheiligsten, ans Kreuz gebracht hatten.
Der Neid ist ähnlich wie die Hoffart so recht ein teuflisches Laster. Neid verleitete ja den Teufel dazu, unsere Stammeltern zur Sünde zu verführen, um sie und ihre Nachkommen in dasselbe Verderben hinab zu ziehen, in das er gestürzt war. Ausdrücklich bezeugt dies die Hl. Schrift mit den Worten: „Durch den Neid des Teufels ist der Tod in die Welt gekommen, und die ihm angehören, ahmen ihm nach.“ (Weish. 2, 24. 25)
Quelle: P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Bd. 2, 1912, S. 350-351