Gottvater, ein Engel mit dem Flammenschwert zu Eva gewandt, ein anderer Engel mit einem Zweig zu Maria gewandt

P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung
IV. Von der Übertretung der Gebote oder von der Sünde
§ 1. Von der Sünde überhaupt

Sind alle Sünden gleich groß?

Nein; es gibt schwere oder Todsünden und geringere oder läßliche Sünden.

Wären alle Sünden gleich groß, wie dies verschiedenen Irrlehrer behaupteten, so würden offenbar auch alle die gleiche Strafe verdienen. Derjenige also, welcher ein unnützes Wort redet oder seinem Nächsten ein paar Pfennige wegnimmt, würde verdienen ebenso strenge gestraft zu werden als ein anderer, der falsch schwört oder seinem Nebenmenschen das Leben raubt. Das wäre aber doch gewiß ein Widersinn, wie er kaum größer gedacht werden kann. Deshalb hat die katholische Kirche jederzeit gelehrt, es gebe einen Unterschied zwischen schweren oder Todsünden, und zwischen geringern oder läßlichen Sünden, zwischen Sünden, die vom Himmelreich ausschließen und die ewigen Höllenstrafen verdienen, und zwischen solchen, die der ewigen Seligkeit nicht berauben und nur eine zeitliche Strafe nach sich ziehen. Und diese Lehre der Kirche findet ihre Rechtfertigung nicht bloß in der gesunden Vernunft, sondern auch in klaren Zeugnissen der Hl. Schrift. Bekanntlich vergleicht der Heiland selbst einige Sünden mit Splittern, andere mit Balken, indem er spricht (Matth. 7,3): „Was siehst du einen Splitter im Auge deines Bruders, und den Balken in deinem Auge siehst du nicht?“, d. h. was achtest du auf die geringen Sünden deines Nächsten, und auf deine eigenen großen Sünden achtest du nicht? Ferner ist in mehreren Schriftstellen die Rede von Sünden, welche dem Menschen Gottes Feindschaft zuziehen, ihn in das Feuer der Hölle stürzen (z.B. 1. Kor. 6,9-10). in andern hingegen von solchen, welche auch der Gerechte begeht, ohne darum aufzuhören, gerecht zu sein. So heißt es im Buch des Predigers (7,21): „Es ist kein Gerechter auf Erden, der nicht sündige.“ Von dergleichen geringeren Sünden redet auch der hl. Apostel Jakobus (3,2), wo er sagt: „In vielen Dingen fehlen wir alle“; und der hl. Johannes, der da spricht: „Wenn wir sagen: Wir haben keine Sünde, so täuschen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.“ (1. Joh. 1,8).

Die schweren Sünden werden auch Todsünden genannt, weil man durch dieselben das übernatürliche Leben der Seele, d.h. die heiligmachende Gnade, verliert und sich des ewigen Todes schuldig macht. Von einer solchen Sünde heißt es in der Hl. Schrift: „Die Sünde, wenn sie vollbracht ist, gebiert den Tod“ (Jak. 1,15), und von dem, der eine solche auf dem Gewissen hat: „Du hast den Namen, daß du lebest, und bist tot.“ (Offb. 3,1) Von diesem Tode sagt der hl. Augustin (Rede 273): „Es gibt einen Tod des Leibes und einen Tod der Seele. Die Seele kann in einem Sinne sterben, in einem andern nicht. Sie kann nicht sterben, insofern sie ihre geistigen Fähigkeiten nimmermehr verliert; sie kann sterben, indem sie Gott verliert. Denn wie die Seele das Leben des Leibes, so ist auch Gott das Leben der Seele. Wie also der Leib stirbt, wenn die Seele ihn verläßt, so stirbt auch die Seele, wenn Gott sie verläßt.“ Vermöge der heiligmachenden Gnade wohnt Gott in der Seele; mit dem Verlust derselben entweicht er aus ihr und hinterläßt sie im Zustande des geistigen Todes.

Die geringen Sünden werden auf läßliche genannt, weil die Nachlassung derselben leichter und auch ohne die Beichte erlangt werden kann, z.B. durch Almosen, Fasten, Anhörung der hl. Messe, Empfang der hl. Kommunion, andächtigen Gebrauch des Weihwassers und andere gute Werke, wenn eine Reue über diese Sünden damit verbunden oder darin eingeschlossen ist. Obschon nämlich, so lehrt ausdrücklich der Kirchenrat von Trient, die läßlichen Sünden mit Nutzen in der Beichte angeklagt werden, so können sie dennoch ohne Schuld verschwiegen und durch viele andere Mittel gesühnt werden. Zur Nachlassung der läßlichen Sünde ist also nicht die Beichte erfordert, wie zur Nachlassung der Todsünde; wohl aber ist eine wahre Reue dazu notwendig. Denn besteht auch ein wesentlicher Unterschied zwischen der schweren und der läßlichen Sünde, so ist letztere doch immer eine Sünde, beleidigt Gott und befleckt die Seele. Es ist jedoch nach dem hl. Thomas, dem die meisten Lehrer folgen, nicht nötig, daß man ausdrücklich Reue über die läßlichen Sünden erwecke; es reicht vielmehr hin, daß diese Reue in der frommen und bußfertigen Gesinnung, womit die genannten oder ähnliche Werke der Gottseligkeit verrichtet werden, eingeschlossen sei. (Conc. Trid. Sess. 14., De poenit. c. 5; S: Thom. 3. p.q. 87. a.1.) Wir können das an der menschlichen Freundschaft veranschaulichen. Bei ihr gilt als Gesetz, daß ein Freund dem andern leichte Fehler verzeiht, wenn ihm dieser durch Werke der Freundschaft sein Wohlwollen bezeugt, auch ohne förmlich um Verzeihung zu bitten. Ähnlich wird auch Gott seinen Freunden die läßlichen Fehler vergeben, wenn diese durch gute Werke ihre Freundschaft bekunden und so die Beleidigung tatsächlich widerrufen. Um jedoch Nachlassung der läßlichen Sünden zu erlangen, muss man im Stande der Gnade sein. Überhaupt wird die läßliche Sünde niemals vergeben, es sei denn, daß die Todsünde zugleich nachgelassen werde oder bereits nachgelassen sei.

Die Theologen behandeln hier mehrere Fragen, die wir füglich übergehen. Nur eine wollen wir berühren, ob nämlich der Gerechte Verzeihung seiner läßlichen Sünden erhält, wenn er darüber bloß eine unvollkommene Reue erweckt. Wird die Frage bejaht, so scheint zu folgen, daß dieselben niemals durch die sakramentale Lossprechung getilgt werden. Zunächst antworten wir: Das Bußsakrament ist seiner Natur nach zur Tilgung der Todsünden bestimmt; wenn auch die läßlichen Sünden hinreichender Gegenstand der sakramentalen Lossprechung sein können, so muss diese Ausdehnung gewissermaßen als eine Vergünstigung angesehen werden. Denn jedenfalls empfängt der Gerechte durch die Lossprechung Vermehrung der heiligmachenden Gnade usw. Sind demnach die läßlichen Sünden durch die Reue bereits getilgt, so wird die Lossprechung dadurch nicht überflüssig und nutzlos. Aber auch nichts Unpassendes liegt darin; im Gegenteil finden wir darin die göttliche Weisheit, die in ihren Werken die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit immer zu verbinden weiß. Denn entspricht es der Gerechtigkeit Gottes, daß er keine Sünde vergibt ohne Buße, so scheint es der göttlichen Güte zu entsprechen, daß Gott die läßlichen Sünden als hinreichenden Gegenstand der Beichte gelten und so die genannten Wohltaten der Absolution dem Gerechten zukommen läßt, auch wenn die läßlichen Sünden, die er beichtet, bereits durch die erforderliche Reue getilgt sind. In ähnlicher Weise läßt sich erklären, daß auch Todsünden, die bereits gebeichtet und nachgelassen sind, hinreichender Gegenstand der Beichte bleiben. (Vgl. Suarez, De poenit. Disp. 11, sect. 3.) Eine andere Antwort lautet dahin, daß die läßlichen Sünden zwar durch eine unvollkommene Reue getilgt werden, aber nicht durch jeden beliebigen Grad derselben, sondern nur durch einen solchen, der im Verhältnis steht zur Schwere der betreffenden Sünden.

Quelle: P. Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Bd. 2, 1912, S. 327-329