1. Brief des hl. Johannes Kap. 1 Vers 1-4
Die Gemeinschaft mit den Aposteln und mit Gott
Die merkwürdige Doppelnatur Christi, die sein ganzes Leben und Wandeln so geheimnisvoll machte und die gerade im Johannes-Evangelium bisweilen so unmittelbar hervor leuchtet, diese Doppelnatur Christi, die auf den Apostel Johannes von Anfang an einen so tiefen Eindruck gemacht hat, daß dieser Eindruck noch jetzt ganz wie damals in seiner Seele weiter lebt, kommt gleich in den ersten Worten des Briefes zum Ausdruck: „Was von Anfang an war.“ Schon das Neutrum des Pronomens „was“, nicht „der“, schildert das Geheimnisvolle seines Wesens. Von Anfang an war etwas da, d. h. also schon vor allen anderen Anfängen, als noch keine Sonne leuchtete, kein Planet seine Bahn verfolgte, als noch nichts Geschaffenes existierte, da war „etwas“ da. „Etwas“, ein undefinierbares, unfaßbares, geheimnisvolles Wesen. Undefinierbar, unfaßbar, weil ja keiner es sehen, keiner in seine Ewigkeit eindringen konnte. Und auf einmal fährt der Apostel fort: „Was wir gehört und mit unseren Augen gesehen haben…“ Wir = die Apostel. Dieses geheimnisvolle, allen Geschöpfen unzugängliche ewige Wesen haben sie, die Apostel, sprechen hören. Sie haben es mit ihren eigenen leiblichen Augen gesehen. Nicht nur einmal. Sie konnten es mit Muße von allen Seiten in seinem ganzen Tun und Lassen betrachten. Ja „unsere Hände haben es betastet“, mit all den Berührungen, die das tägliche Zusammenleben mit sich bringt.
Hier kann der Apostel nicht mehr an sich halten. Von selber sprudelt ihm gegen die Konstruktion des Satzes das heraus, wovon sein Herz so übervoll ist: „Vom Wort des Lebens.“ Man kann sich fragen, ob das heißen soll „vom Wort, das das Leben ist“, oder „vom Wort, das das Leben bringt“. Besser aber stellt man solche Fragen bei Johannes nicht. Denn er liebt es, die Mehrdeutigkeit, die der griechischen Sprache oft eigen ist, zu benützen, um eine Fülle von unter sich zusammen hängenden Gedanken mit einem Wort auszudrücken. Tatsächlich bedeutet „das Wort vom Leben“ beides. Das Wort (=Christus) ist ja das Leben selber und deshalb die Quelle alles Lebens außer ihm. Das ist es also, „was von Anfang an war“.
Als noch kein Mensch atmete, als noch kein Vogel zirpte, als noch kein Grashalm grünte, als noch die Totenstille des Nichts sozusagen den leeren Weltenraum erfüllte, da gab es schon ein Leben, ein ewiges, nicht erschaffenes, sondern aus dem Urgrund seines eigenen Seins in unendlicher Fülle hervor strömendes Leben. In einem Zwischensatz (Vers 2) unterbricht der Apostel seinen Gedankengang, um zu sagen, wie dieses Leben offenbar geworden ist. Denn niemand wußte davon. Keiner von den Menschen, deren jeder sein winziges Lebensfünkchen durch diese Zeitlichkeit hindurch trägt, bis es erlischt, konnte etwas davon wissen, daß es solch ein Leben gibt. Jetzt aber ist es offenbar geworden. Es ist selbst in der Gestalt eines Menschen sichtbar in diese Welt hinein getreten. Und die Apostel haben es gesehen und können deshalb bezeugen und den anderen Menschen verkünden, daß es ein „ewiges Leben“ gibt.
Denn jener merkwürdige Mensch, mit dem die Apostel zusammen in innigster Gemeinschaft gelebt haben und dessen Art sie also aus eigener täglicher Erfahrung kennen lernen konnten, besaß nicht nur ein Leben, das dem der übrigen Menschen glich, sondern außerdem eines, „daß beim Vater“, also wenig und göttlich war, und das ihnen, eben den Augenzeugen seines Lebens, offenbar geworden ist. Das also, was sie von diesem „Wort des Lebens“ persönlich erfahren haben, das verkündigen sie auch den anderen. „Wir“, schreibt der heilige Johannes, weil ja alle Apostel die gleiche Botschaft in die Welt getragen haben, die er seinen Lesern hier auseinander setzt.
Der Zweck aber dieser apostolischen Verkündigung ist, „damit auch ihr Gemeinschaft habt mit uns“. Denn diese Erfahrungen, die die Jünger des Herrn in ihrem Zusammensein mit dem „Wort des Lebens“ gemacht haben, haben eine ganz neue Gemeinschaft aus ihnen gebildet, einen ganz eigenen Kreis von Menschen, dessen wirkliches Leben sich außerhalb des großen Kreises der übrigen Menschheit abspielt. Und in diesen Kreis möchte der heilige Johannes auch die Leser seines Briefes hinein ziehen. Das heißt: sie sind ja schon drin. Denn sie sind bereits Christen. Aber je mehr sie Teilnehmer werden an den Erfahrungen der Augenzeugen Christi, desto enger und inniger werden sie auch diesem Kreis angehören.
Das ist aber keineswegs nur eine Gemeinschaft von Menschen, wie sie etwa auch die Schüler eines Philosophen bilden können, sondern die denkbar höchste. Die auffallende Anknüpfung des folgenden Satzes durch „Und…aber“, was in der Übersetzung mit „Und zwar“ wieder gegeben ist, macht darauf aufmerksam: „Und zwar ist unsere Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus.“
In diese innigste Gemeinschaft mit Gott und Christus gelangt man also nur durch die apostolische Gemeinschaft, d. i. durch die Kirche, die ja nach dem heiligen Paulus den Leib bildet, dessen Haupt Christus ist. „Wir schreiben“, fährt der heilige Johannes fort. Kaum deshalb, weil er im Namen oder Auftrag einer Mehrheit schreibt. Sondern weil er bis jetzt, wo von der Augenzeugenschaft und der mündlichen Verkündigung die Rede war, selbstverständlich „wir“ gebrauchen musste, behält er diesen Plural bei, da ja jeder Apostel gegebenenfalls das gleiche auch schreiben würde. Die Freude, deren Erfüllung der heilige Johannes sich wünscht, ist die Freude Christi (Joh. 15, 11). Diese Freude wird, wie das ja überhaupt in der Natur der echten Freude liegt, um so größer, je mehr daran teilnehmen.
Von dieser in der christlichen Gemeinschaft und durch sie bewirkten Lebensgemeinschaft mit Gott und Christus will also der folgende Brief handeln, und von den zwei Wurzeln, aus denen diese Gemeinschaft heraus wächst, dem richtigen Glauben an Christus und dem Wandel nach dem Wandel Christi, also der neutestamentlichen Heiligkeit, die wesentlich in der christlichen Bruderliebe besteht. Genau genommen ist es nur eine Wurzel, nämlich der Glaube an Christus, den Sohn Gottes und Erlöser der Welt, da die Bruderliebe die notwendige Folge dieses Glaubens ist, falls er überhaupt in einem Menschen Wurzel geschlagen hat.
Wenn man nun den ganzen Brief fortlaufend liest, so läßt es sich nicht leugnen, daß er einen ermüdenden und langweilenden Eindruck macht. Scheint es doch gerade so, als habe hier, wie auch tatsächlich schon behauptet worden ist, ein geistesmüder Greis zwar schöne, aber doch stets dieselben Gedanken ohne logische Ordnung und Verbindung von neuem wiederholt. Das trifft jedoch durchaus nicht zu. Zwar ist es richtig, daß wenige Grundgedanken den Inhalt des ganzen Schreibens bilden. Aber es findet sich kein einziger Satz in demselben, wo ein schon vorgekommener Gedanke einfach wiederholt würde. Es ist vielmehr beim Lesen dieses Briefes, wie wenn man die von der Sonne beschienenen Meereswogen beobachtet. Zwar ist es dasselbe Auf und Ab der Wellen. Ab in stetigem Wechsel der Farbentöne, so daß eine und dieselbe Meeresfläche immer wieder einen neuen und überraschenden Anblick bietet. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIII, 1941, S. 473 – S. 475