Apokalypse
Die sechste Posaune. Das zweite Wehe. Kap. 9 Vers 13-20. Die dämonischen Reiterheere
Der sechste Engel hat sein Signal gegeben, steht aber noch da mit der Posaune in der Hand, als wisse er, daß er im Unterschied zu den übrigen nicht nur zu blasen, sondern einen bestimmten Befehl entgegen zu nehmen und zu vollstrecken habe. Klar wie ein militärisches Kommando lautet dieser Befehl. Wer sind aber die vier am großen Euphratstrom gefesselten Engel, die er los lassen soll? Sind es gute oder böse Engel? Die vier an den vier Ecken der Erde harrenden Engel (7, 1-3) sind es nicht; denn diese sollen die vier gefesselten Winde loslassen, sind aber selbst nicht gefesselt. Zwar können auch gute Engel mit der Vollstreckung göttlicher Strafgerichte beauftragt werden; hier aber sind die vier Engel Anführer der dämonischen Reiterheere, also selbst ebenfalls Dämonen wie Abaddon, der König und Anführer der höllischen Heuschrecken-Schwärme, der Engel des Abgrundes (9, 11). in der Vierzahl drückt sich der Umfang der Plage aus. Am großen Euphratstrom sind die Engel gefesselt. Das ist die beliebte Bezeichnung des äußersten Ostens, von Palästina aus gesehen ( 1. Mose 15, 18; 5. Mose 1, 7, 11, 24, Jos. 1, 4; Offb. 16, 12). Dort liegt Babel, die Metropole aller Gottesfeinde. Dort ist deshalb auch das gewaltige Heerlager der satanischen Streitkräfte. Vom Euphrat her kamen die mächtigen Fürsten, die das alt-testamentliche Gottesvolk bedrohten, bis sie Samaria und Jerusalem eroberten. Von dorther zogen auch die gefürchteten Reiterheere der Parther gegen die Macht Roms. Es ist indes sehr unwahrscheinlich, daß Johannes durch diese Parthereinfälle zu dem kühnen Bild seiner Vision angeregt worden ist. Was er schaut, ist auch keine Entlehnung aus den Henochbuch (56, 508)… Hier im Henochbuch richtet sich der Angriff menschlicher Herrscher des Ostens nur gegen Palästina und bricht sich an den Mauern Jerusalems in blutiger Selbstvernichtung. Johannes dagegen sieht die höllischen Reitermassen gegen die ganze Heidenwelt losbrechen. Sie erreichen ihr Ziel und vollbringen ihr Werk. Die Vision des Apostels ist also nicht zeitgeschichtlich bedingt, sondern endgeschichtlich ausgerichtet.
Vierfach ist die Zeit der Entfesselung bestimmt: nach Stunde, Tag, Monat und Jahr. Bis dahin müssen die Engel gleich untergeordneten Heerführern mit schlagfertigen Armeen auf den Befehl des obersten Kriegsherrn warten. Dann aber richten sie größeres Unheil an als die Dämonenheere der Heuschrecken. Diesen war es nur gestattet, fünf Monate lang die Menschen zu peinigen, ohne sie zu töten (9, 5). Jetzt aber kommt ein Drittel der Menschheit, das heißt ein Großteil der Heiden, der widerspenstigen Gottesfeinde der Endzeit, in dem Strafgericht um.
All diese Einzelheiten sind hier nicht nur Ausschmückung des Bildes, sondern wollen bei der Sinndeutung der Vision beachtet sein. Dem Allmächtigen sind alle Kräfte der Natur und alle Wesen seiner Schöpfung dienstbar, wann, wo und wie er sie braucht. Auch die gefallenen Engel bleiben gebunden, bis Gottes Zeitpunkt gekommen ist. Das furchtbare Übel des Krieges, dem ein Drittel der Menschen zum Opfer fällt, hat seine nächste Quelle im Bösen. Gottfeindliche Mächte sind hier die eigentlichen Kriegstreiber. Aber sie müssen den Wink des Ewigen abwarten, und der von ihnen entfesselte Krieg ist durch die Vorsehung von jeher nach Zeit und Umfang bestimmt. Ein guter Engel muss die vier bösen losbinden. In ihrem Wüten aber werden sie mit ihren Massenheeren zur Gottesgeißel und Zuchtrute an ihren Gesinnungs-Genossen unter den menschen, an denen sowohl, die getötet werden, wie an jenen, die am Leben bleiben, die aber nicht einmal durch das Entsetzen des Krieges zur Bekehrung gebracht werden, vielmehr durch Verstockung in noch größere Schuld geraten und darum noch härtere Strafen zu erwarten haben. Wenn die Menschenschuld groß geworden ist im Ungehorsam gegen Gott und in der Verfolgung der Unschuld, läßt der Herr das furchtbare Strafgericht des Krieges herein brechen. Die Unschuldigen brauchen also nicht ihren Feinden Gleiches mit Gleichem zu vergelten, sondern nur in vertrauendem Gebet den höchsten Richter ihre gerechte Sache zu empfehlen; der wird dann eingreifen, wenn die Stunde geschlagen hat. Die genauen Zeitangaben über die Entfesselung der gebundenen Engel sind als „nicht eine Spielerei, sondern ein Zeugnis für den Glauben daran, daß in dem scheinbaren Chaos der Endzeit nichts als Gottes Plan, und zwar Gottes ganzer und genauer Plan sich vollzieht“ (Hanns Lilje 132).
Ein Drittel aller Ungläubigen, das heißt eine überaus hohe Zahl, fällt dem über die Erde dahin brausenden Zweihundertmillionen-Heer zum Opfer. Die Gluten dieser höllischen Flammenwerfer verbrennen die Menschen, ihre Giftgas-Schwaden ersticken sie. Bleibt einer von dem Hauch der Verderben speienden Rachen verschont, so droht ihm neues Unheil von der Rückseite der Plagewesen. Statt aus Haaren bestehen nämlich die Schweife der Rosse aus einem Geringel von schlangen, deren giftiger Biss zum Tode führt. Auch hierin liegt eine Steigerung gegenüber der fünften Vision; denn die Heuschrecken-Dämonen verursachten mit dem Stachel ihrer Skorpion-Schwänze nur brennenden Schmerz… Der Angriff des Reiterheeres geht ja gegen die Heiden.
Auch die furchtbare Heimsuchung durch die unermesslichen Scharen der dämonischen Reiterei hat nicht nur Strafcharakter; der gerechte Gott will dadurch die Überlebenden zur Einsicht und Umkehr bringen. Aber das Ergebnis ist ganz und gar negativ. Der Krieg ist selten eine Tugendschule. Not lehrt beten. Not lehrt aber auch fluchen, je nach der seelischen Grundhaltung der davon betroffenen. Die vom Unheil der Reiterheere verschonten Menschen bleiben verstockt. Wiederum sind die Heiden gemeint. Sie haben schuldhaft alles in sich erstarren lassen, woran die Gnade anknüpfen könnte. Was andere erleuchtet, blendet sie; was andere erwärmt, verhärtet sie. Das schrecklichste aller Geheimnisse ist dieses Geheimnis der Verstocktheit. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI.2, 1942, S. 142 – S. 145