Apokalypse – Der Ansturm der antichristlichen Mächte

 Die himmlische Frau und der Drache. Kap. 12 Vers 10 – 12. Das Jubellied des Sieges über den Drachen

Was Johannes in der Vision geschaut hat, wird von einer Himmelsstimme feierlich besungen. Das läßt die Bedeutung des von Michael errungenen Sieges noch besser erkennen. Wer das Jubellied anstimmt, ist nicht gesagt. Es wird nicht eine Einzelstimme, sondern der ganze Chor der Seligen gemeint sein (vgl. 11, 15-18). Solange der Teufel Gelegenheit hatte, die auf Erden lebenden „Brüder“ der Seligen, also die Mitglieder der streitenden Kirche, ohne Unterlass vor Gott anzuklagen und sie dann mit Gottes Zulassung zu quälen und in Versuchung zu führen, war das Heil vieler noch gefährdet; die Macht Gottes schien beschränkt, sein Reich noch nicht vollendet und die Gewalt Christi gemindert. Mit der Erlösung aber ist das anders geworden. Den Anspruch Satans auf die sündige Menschheit hat Christus durch Hingabe seines Blutes beseitigt. Im eigentlichen Bereich des Gewissens der Erlösten hat der Satan jede unmittelbare Gewalt eingebüßt. Darum „ist nun das Heil und die Kraft und das Reich unseres Gottes und die Macht seines Gesalbten angebrochen“. Einen Erlösten vermag der Satan nicht mehr vor Gott zu verklagen. Der Christ darf, solange er in der gnadenvollen Gemeinschaft mi Christus steht, auch von sich sagen: „Der Fürst über die Welt kommt, aber er hat kein Anrecht auf mich“ (Joh. 14, 30). Hiermit berührt die Apokalypse einen der schwierigsten Gedanken des Hebräerbriefes, der von einer Reinigung der himmlischen Dinge durch den Hohenpriester Christus spricht: „Es ist also eine Notwendigkeit, daß die Abbilder der himmlischen Dinge dagegen selbst durch bessere Opfer als diese“ (9, 23). Durch die Sünden des Volkes Israel dachte man sich auch das Heiligtum und Allerheiligste des irdischen Tempels verunreinigt. Darum war eine Reinigung und Entsühnung durch den Hohenpriester am großen Versöhnungstage nötig (3. Mos. 16, 16ff). Die Ausübung der Vollmacht Satans, als Ankläger der Menschen vor Gott hinzutreten, war gleichsam eine Verunreinigung des himmlischen Heiligtums. Christus hat dem ein Ende gemacht, indem er am Kreuz sein Blut vergoss und „eine ewige Erlösung bewirkte“ (Hebr. 9, 12). Dadurch hat er das Reich Gottes in den Seelen begründet und den Satan hinaus geworfen. Der Unreine hat keinen Zutritt mehr ins Heiligtum. „Wer wird Auserwählte Gottes verklagen?“ (Röm. 8, 33) Diese Auserwählten sind ja keine Erdbewohner im eigentlichen Sinne, sondern Pilger und Fremdlinge hienieden. Als Gotteskinder sind sie „Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes“ (Eph. 2, 19). Die streitende und die triumphierende Kirche bilden zusammen das eine Reich Gottes, und die Seligen nehmen Anteil an dem Wohl und Wehe ihrer Brüder auf Erden. Darum ihre Freude darüber, daß nun den verleumderischen Anklagen des Teufels ein Ende gemacht ist. Gerade zur Zeit Domitians, unter dem die Apokalypse geschrieben wurde, blühte das Denunziantentum und forderte seine Opfer unter den Christen. Ob freilich Johannes deshalb den Teufel als den „Ankläger der Brüder“ bezeichnet, ist fraglich.

In kühnem Gedankenflug stellt die Himmelsstimme fest, daß die „Brüder“, also die vom Satan bislang Verklagten, ihn bereits selbst besiegt haben. Dem prophetischen Blick ist die Zukunft wiederum so gewiß, als sei sie schon Vergangenheit. Nicht aus eigenem Können, sondern „kraft des Blutes des Lammes“ wird der Sieg der Brüder erkämpft. Das Erlöserblut Christi macht sie zu Überwindern aller teuflischen Ränke. Aber sie haben die Ehre, auch selbst zu diesem herrlichen Sieg beizutragen durch „das Wort ihres Zeugnisses“. Sie gaben vor aller Welt ein mutiges Bekenntnis ihres Glaubens an Christus und sein Evangelium abgelegt. Dabei waren sie sich bewußt, daß der Satan über ihr leibliches Leben immer noch Macht besitze und es ihnen unter mancherlei Qualen zu nehmen imstande sei. Aber was hatte der Verlust aller irdischen Güter und selbst des Lebens zu bedeuten, nachdem die Erlösung durch Christi Blut dem Tod seine Schrecken genommen hatte! (Vgl. Matth. 10, 28) Der rettet am sichersten sein Leben, der es für Christus verliert (Joh. 12, 25). Die himmlische Stimme, die Johannes nach dem Sturz des Drachen vernimmt, preist also den Märtyrergeist als eine der herrlichsten Folgen dieses entscheidenden Wendepunktes in der Geschichte des Gottesreiches. Das musste die Christengemeinde aufhorchen lassen und mit unerschrockenem Bekennermut erfüllen. Christi Sieg ist ihr Sieg geworden.

Das ist etwas so herrliches, daß der ganze Himmel mit seinen Bewohnern jauchzend in das Siegeslied einstimmen soll. Aber die Freude der himmlischen Siegesfeier läßt den Sprechenden nicht das Schicksal der Erde vergessen. Noch ist ja der Satan nicht in dem Feuerpfuhl der Hölle für immer eingeschlossen und zur völligen Ohnmacht verdammt (20, 10). Vielmehr wurde er auf die Erde gestürzt (12, 9), wo er nun sein Schreckensregiment über die Menschen führen wird, mögen sie auf dem Festland wohnen oder sich auf dem Meer aufhalten. Die Gegensätze sind unüberbrückbar geworden. An die Himmel ergeht der Aufruf: „Jauchzet!“, der Erde gilt das furchtbare „Wehe!“ Der schmachvolle Sturz hat nämlich den Teufel in rasenden Zorn versetzt. Zudem ist er sich klar darüber, daß es mit seiner Macht bald ganz zu Ende ist, auch auf der Erde. Schreckliches steht bis dahin den Menschen bevor. So leitet der 12. Vers zum folgenden Bild über, lenkt den Blick auf das dritte Wehe und gibt doch den Betreuen Christi Mut und Zuversicht vor dem Ausbruch des Endkampfes. Nur „kurze Zeit“ währt das Ringen; aber diese Dauer ist mit dem Maßstab des Ewigen gemessen, bei dem tausend Jahre wie ein tag sind. Fast zwei Jahrtausende tobt schon der Kampf, und niemand kennt sein Ende außer Gott (vgl. 1, 1 u. 3; 22, 6f). –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI.2, 1942, S. 183 – S. 185
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