Der Antichrist und die Zeit der Apostasie

Das Hindernis für die Gesetzlosigkeit ist weg geräumt

Der letzte Punkt also, über welchen ich zu sprechen habe, ist der, daß die Schranke oder das Hindernis für die Gesetzlosigkeit fortdauern wird, bis es weg geräumt ist. Was ist aber die Bedeutung des Wortes. „Bis es weg geräumt ist? Wer soll es wegräumen? Soll es weg geräumt werden durch den Willen des Menschen, oder durch bloße zufällige Ereignisse? Gewiß ist dies nicht die Bedeutung der Worte. Wenn die Schranke, welche die Entwicklung des Prinzips der antichristlichen Unordnung gehindert hat, die göttliche Macht Jesu Christi, unseres Herrn, gewesen ist, die in der Kirche verkörpert ist, und von seinem Statthalter geleitet wird, dann ist keine Hand mächtig genug, und kein Wille stark genug, das Hindernis wegzuräumen, sondern nur die Hand und der Wille des menschgewordenen Sohnes Gottes selbst… Es ist die göttliche Macht, zuerst in der Vorsehung, und dann in seiner Kirche, und sodann in beiden miteinander, die fortdauert bis die Zeit kommen wird, die vorausgesehen und vorherbestimmt wurde, um die Schranke zu entfernen, damit eine neue Anordnung seiner Weisheit auf Erden sich offenbare, wovon ich hernach zu sprechen haben werde.

Wir haben aber eine Analogie zu diesem. Die Geschichte der Kirche und die Geschichte unseres Herrn auf Erden laufen gleichsam parallel. Dreiunddreißig Jahre war der Sohn Gottes im Fleische in der Welt, und Niemand konnte Hand an ihn legen. Niemand konnte ihn angreifen, „weil seine Stunde noch nicht gekommen war.“ Es war eine vorherbestimmte Stunde, wo der Sohn Gottes in die Hände der Sünder überliefert werden sollte. Er wußte sie vorher, und fragte sie vorher. Er hielt sie in seiner Hand; denn er umgab seine Person mit einem Kreise seiner göttlichen Macht. Niemand konnte jenen Kreis der Allmacht durchbrechen, bis die Stunde kam, da er nach seinem eigenen Willen den Mächten des Bösen den Weg öffnete. Aus diesem Grunde sagte er im Garten: „Dies ist eure Stunde, und die Macht der Finsternis.“ (Luk. 27, 53) Aus diesem Grunde übte er, bevor er sich in die Hände der Sünder gab, noch einmal die Majestät seiner Macht aus, und als sie kamen, ihn zu ergreifen, stand er auf und sprach: „Ich bin es, und sie wichen zurück und fielen zu Boden.“ (Joh. 18, 5) Nachdem er seine göttliche Majestät behauptet hatte, überlieferte er sich in die Hände der Sünder. So sprach er auch, als er vor Pilatus stand: „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von Oben gegeben wäre.“ (Joh. 19, 11f) Es war der Wille Gottes, es war die Zulassung des Vaters, daß Pilatus Macht hatte über seinen menschgewordenen Sohn. Ferner sagte er: „Meinst du, daß ich meinen Vater nicht bitten könnte? Er würde mir jetzt mehr als zwölf Legionen Engel zuschicken; wie würde dann aber die Schrift erfüllt werden?“ (Matth. 26, 53f) Ebenso ist es mit seiner Kirche. Bis die Stunde gekommen ist, wo die Schranke nach dem göttlichen Willen weggeräumt sein wird, hat Niemand die Macht, Hand an sie zu legen. Die Pforten der Hölle können Krieg gegen sie führen; sie können mit dem Statthalter unseres Herrn kämpfen und ringen, wie sie jetzt tun, aber Niemand hat die Macht, ihn auch nur einen Schritt zu entfernen, bis die Stunde kommen wird, wo der Sohn Gottes erlaubt, daß die Mächte des Bösen einige Zeit die Oberhand haben. Daß er dies für einige Zeit erlauben wird, steht in dem Buche der Weissagung. Wenn das Hindernis weggeräumt ist, dann wird der Mann der Sünde geoffenbart werden; dann wird die Verfolgung von dritthalb Jahren kommen, eine kurze aber schreckliche Zeit, in welcher die Kirche Gottes in ihren Zustand des Leidens zurückkehren wird, wie im Anfang, und die unvergängliche Kirche Gottes, welche dreihundert Jahre unter blutigen Martern lebte, wird auch fortleben in dem Feuer der Zeiten des Antichrist, vermöge ihres unauslöschlichen Lebens, das sie aus der durchbohrten Seite Jesu schöpft.

Diese Dinge gehen nun schnell in Erfüllung, und es ist gut für uns, sie uns vor Augen zu stellen; denn die Vorläufer sind bereits da und dort: – die Schwächung des Heiligen Vaters, der Mord seines Heeres, der Einfall in seine Staaten, der Verrat derer, die ihm am nächsten stehen, die Tyrannei derer, die seine Söhne sind; die Freude, der Jubel und das Triumph-Geschrei protestantischer Länder und protestantischer Regierungen, die Verachtung und der Spott, die über sein geheiligtes und gesalbtes Haupt Tag für Tag in England ausgegossen werden. Und es gibt Katholiken, die daran kein Ärgernis nehmen; es gibt Katholiken, die gegen die weltliche Herrschaft des Papstes sprechen, entweder weil sie durch das Geschrei eines protestantischen Volkes betäubt sind, oder weil sie feigherzig sind und nicht den Mut haben, für eine unpopuläre Wahrheit gegen eine populäre Lüge in die Schranken zu treten. Der Geist des protestantischen England, seine Gesetzlosigkeit, sein Hochmut, seine Verachtung der Kirche Gottes und seine Feindschaft gegen dieselbe hat auch Katholiken kaltherzig gemacht, selbst wenn der Statthalter Christi beschimpft wird. Wir haben daher auf unserer Hut zu sein. Es wird noch einmal mit Einigen geschehen, was geschah, als der Sohn Gottes sein Leiden erduldete. Sie sahen ihn verraten, gebunden, weggeführt, mit Fäusten geschlagen und gegeißelt; sie sahen ihn sein Kreuz zum Kalvarienberg schleppen, dann daran genagelt und empor gehoben zum Spott der Welt, und sie sagten: „Wenn er der König Israels ist, so soll er jetzt vom Kreuz herab kommen und wir wollen ihm glauben.“ (Matth. 27, 42) –
aus: Heinrich Eduard Manning, Kardinal, Der Antichrist oder die gegenwärtige Krise des heiligen Stuhls, im Lichte der Weissagung betrachtet, 1861, S. 63 – S. 66

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