Der Judasbrief
Mahnworte an die Gläubigen (Vers 22-23): Verhalten gegenüber den Opfern der Verführung
Fest und eindeutig hat Judas den Trennungsstrich nach den sittenlosen Irrlehrern hin gezogen. Mit ihnen gibt es keine Gemeinschaft mehr, und zwar nicht aus mangelnder Liebe auf Seiten der Christen, sondern weil Licht und Finsternis, Christus und Belial nichts Gemeinsames haben. Toleranz um jeden Preis hat Christus nie geübt oder empfohlen, denn sie ist Schwäche (Matth. 18, 17; 1. Kor. 5, 9ff; 2. Joh. 10F; Offb. 2, 14ff; Ignatius, Smyrna 4, 1).
Ganz anders jedoch hat sich der Christ gegenüber den armen Opfern der libertinistischen Verführungskünste zu verhalten, da sie weniger aus Bosheit als aus Schwäche irren und schwanken. Durch lieblose Härte würden sie völlig ins Verderben getrieben. Sie sind zu behandeln wie das geknickte Rohr und der glimmende Docht (Matth. 12, 20). Zu dieser apostolischen und seelsorglichen Mitarbeit ruft Judas die Leser auf, ehe er den Brief mit einer Doxologie abschließt (Vers 22-23) Es genügt nicht, sich selbst in der Liebe Gottes zu bewahren und auf Christi Erbarmen zu harren; jeder ist verpflichtet, auch an der Rettung der andern mitzuarbeiten…
Was hier von allen Christen gefordert wird, ist Laienapostolat im edelsten Sinne.
Nach dem längeren und gut bezeugten Text werden drei Klassen unterschieden.
Die erste Klasse der Verführten
Zur ersten gehören die noch Schwankenden. Noch haben sie den verhängnisvollen Schritt zum Abfall nicht getan, aber sie stehen schon auf dem breiten Weg, der im Verderben endet, weil sie mit der Irrlehre liebäugeln. Ihrer soll man sich annehmen und sie durch Belehrung im eigentlichen Sinne „zurechtweisen“, das heißt ihnen den rechten Weg weisen, ihnen die Augen öffnen, damit sie Irrtum und Wahrheit unterscheiden lernen und den Abgrund gewahr werden, dem sie zuteilen.
Die zweite Klasse der Verführten
Die zweite Klasse ist bereits in allergrößter Gefahr, Menschen gleich, die sich in einem brennenden Haus aufhalten und nur von anderen gerettet werden können. Zaghaftes Säumen hieße sie dem sicheren Verderben überlassen; sie müssen fest angepackt werden, mag es dabei auch zugehen, wie wenn man ein brennendes Holzscheit aus dem Feuer reißt (Am. 4, 11). Der Laienapostel wie der amtliche Seelsorger sollen also weder davor zurückschrecken, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, noch davor, den Gefährdeten einmal ordentlich wehe zu tun, wenn es sein muss und nur so die Rettung möglich ist. Die Praxis mit dem Seiden-Handschuh ist dann weder Klugheit noch Seeleneifer (vgl. 2. Kor. 7, 8ff).
Die dritte Klasse der Verführten
Eine dritte Klasse ist hoffnungslos der libertinistischen Ansteckung verfallen. Keinem steht es jedoch zu, über diese Opfer der Verführung den Stab zu brechen; sie verdienen Mitleid wie Kranke, die der Arzt aufgegeben hat. Wir können sie nur der Barmherzigkeit Gottes empfehlen; aber die erbarmende Liebe muss mit wachsamer Furcht verbunden bleiben. Wie einer sich schon dadurch anstecken kann, dass er die schmutzige Wäsche eines Pestkranken berührt, so ist der nähere Verkehr mit den unzüchtigen Anhängern der Libertinisten sorgfältigst zu vermeiden. Nie darf das Mitleid mit dem Sünder so weit gehen, dass die Sünde selbst nicht ernst genommen wird. Augustinus hat dazu bemerkt: „Die Vollkommenen haben die Pflicht, in den Sündern nur die Sünde zu hassen, die sündigen Menschen selber aber zu lieben.“ –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI/1, 1950, S. 352 – S. 353