Der 2. Brief des heiligen Apostels Paulus an Timotheus 4. Kapitel

In der Zeit des Kampfes gegen Gott: Neue Propheten stellen sich massenhaft vor, jeder mit einem anderen geistreichen und verblüffenden System

1. In einem Schlusswort von ergreifender Schönheit richtet der Apostel einen letzten Appell an den jungen Freund und Bischof, mit einer Eindringlichkeit und einem heiligen Ernst, die nicht mehr überboten werden können. Paulus läßt den Bischof von Ephesus gleichsam vor dem Throne Gottes, vor dem Richterstuhl des zum Weltgericht erschienenen Gottkönigs Christus antreten, um den letzten Befehl zu empfangen. Alle Menschen werden einmal Zeuge sein, wie Timotheus das Testament des Apostels ausgeführt hat. „Wer kann wenn er diese Worte hört – falls er Gott treu dient und nicht ein betrügerischer Arbeiter ist -, in Ruhe bleiben? Wer sollte sich da erkühnen, lau und träge zu bleiben, wenn er auf solche Weise beschworen wird?“ (Hl. Augustinus, gegen den Donatisten Cresconius I, 6)

2. Der wesentliche Inhalt des letzten Appells ist: Sei als Apostel des heiligen Evangeliums Gottes, als Künder der einen Wahrheit, als Führer zu Christus auf deinem Posten! Die Hölle strengt sich an, der Satan ruht nicht, die falschen Propheten eifern um die Seelen der Menschen: wie dürfte ein Bischof der Kirche da still zusehen können! Zögere keinen Augenblick, deiner Berufung getreu das Wort Gottes hinaus zu tragen, ob man es mit Freude aufnimmt, oder ob man darob die Zähne knirscht. Die Bischöfe und Priester, die im Dienst des Höchsten stehen, brauchen nicht abzuwarten, bis Menschen ihnen das Wort gestatten; brauchen auch nicht beraten zu werden, welchen teil der Frohen Botschaft sie zu verkünden haben. Ihr Lehrauftrag erstreckt sich über die ganze Welt und umfaßt die ganze Wahrheit (Matth. 10, 27; 28, 18-20)

3. In der Zeit des Kampfes gegen Gott soll der Herold Gottes an jeden Menschen heran treten und sich jeder Art der Wortverkündigung – je nach den Umständen – bedienen. Um dem Einfluss der Gottesfeinde entgegen zu wirken und den Menschen in diesem geistigen Aufreibungs-Kampf immer wieder neue Widerstandskraft zuzuführen. Das geschieht durch Darbietung der Wahrheit, durch Widerlegung des Irrtums, durch Schärfung des Gewissens und begeisternden Aufruf. In zäher Geduld und in geduldiger Liebe muss Schritt für Schritt dem Feind Boden abgerungen, die neue Stellung befestigt und gesichert werden. Ein geistiger Aufreibungs-Kampf, wie ihn die Hölle ins Werk setzt, erfordert viel beharrliche und zielbewußte Kleinarbeit in der Vorbereitung und Durchführung der Gegenwehr.
Denn die Menschheit wird mit soviel neuen Ideen bekannt gemacht; die neuen Propheten stellen sich massenhaft vor, jeder mit einem anderen geistreichen und verblüffenden System; alle aber kommen dem menschlichen verlangen, das im Grunde nichts anderes als die Lockung des Hochmutes und des Fleisches ist, entgegen. Da hat denn die „gesunde Lehre! Der Frohen Botschaft Gottes, die einfach und schlicht die Wahrheit verkündet, die Offenbarung des Allerhöchsten an die Menschheit mit ihrer Forderung nach Überwindung der gefallenen Natur, nach sittlich-ernstem Streben zur Verähnlichung mit Gott, nach Ein- und Unterordnung unter die Satzungen des Reiches Gottes auf Erden einen schweren Stand. Die Menschen, ja selbst die Kinder der Kirche, mögen da oftmals bei der Anpreisung der neuen Geisteskost den Geschmack verlieren und Überdruss haben an der Geistesnahrung des Glaubens, ähnlich wie einstmals die Israeliten in der Wüste Überdruss hatten am Manna.

4. Die Wahrheit ist nämlich ihrem Inhalt nach immer die gleiche und immer herb und unerbittlich in ihren Forderungen. Die Phantasien der falschen Propheten schmeicheln hingegen der oberflächlichen, modesüchtigen und modekranken Masse, die bereit ist, jeden Tag ein anderes Märchen zu glauben, wenn es nur ihrem Geschmack und ihren Bedürfnissen irgendwie entgegen kommt, und erst recht, wenn es unter einer religiösen Flagge geschützt erscheint.

5. Die Menschheit gleicht einem Kranken, der im Zustand des Fiebers von einer Wahnidee zur anderen hin und her geworfen wird. Diesem Kranken kann nur ein Arzt helfen, der ruhig und wachsam das Krankheitsbild beobachtet und klug und geistesgegenwärtig seine Anordnungen trifft, unbeeinflußt von den wechselnden, oft töricht-gefahrvollen Wünschen des Leidenden. Der Kranke und seine Angehörigen werden vielleicht die nüchtern denkende und manchmal unerbittlich zugreifende Art des Arztes verletzend finden und verurteilen. Wenn sie aber zur Gesundung geführt hat, werden sie seine Tüchtigkeit dankbar anerkennen. So hätte auch die Menschheit oft Grund gehabt, den Bischöfen und Priestern zu danken, wenn sie als Prediger der Wahrheit auf gefährliche Krankheiten der Zeit aufmerksam machten. Wer ehrlichen und aufrichtigen Herzens die Rundschreiben der Päpste und die Hirtenschreiben der Bischöfe der katholischen Kirche durchforscht, wird zugeben müssen, dass sie schon oft und lange vor der Hauptkrankheit unserer zeit, dem ungläubigen Materialismus, gewarnt, seine letzten Ursachen aufgedeckt, seine Folgen im einzelnen voraus gesagt und die Mittel seiner Bekämpfung verordnet haben. Vielleicht wird man doch noch einmal ihre Stimme hören, wenn es höchste Zeit ist, das Schlimmste abzuwenden, und man einsehen gelernt hat, dass dieses Zeitübel nicht nur mit äußeren Machtmitteln bekämpft, sondern vor allem durch die Kraft eines lebendigen Gottesglaubens und die Gnadenwirkungen der Religion geheilt werden muss. Je früher und großzügiger ein Volk der christlichen Religion die Möglichkeit zur Entfaltung ihrer inneren göttlichen Kräfte in der Öffentlichkeit gibt, desto rascher und glücklicher wird es die gefährliche Weltkrise überstehen, die durch den Unglauben und die Gottlosigkeit herauf beschworen wurde. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XV, 1937, S. 385 – S. 387