Der Römerbrief Kap. 1 Vers 21-31
Die Sittenverderbnis der alten Heidenwelt
Die Sittenverderbnis des alten Heidentums und jeglicher Gottlosigkeit geht darum nicht auf mangelnde Erkenntnismöglichkeit zurück, sondern auf die mangelnde Willensbereitschaft, aus der sich aufdrängenden Wahrheit die Folgerungen für das sittlich-religiöse Leben zu ziehen. Nicht aus Verstandesgründen lehnt der Ungläubige Gott als Schöpfer und Herrn des Weltalls ab, sondern aus Hochmut verweigert er ihm die Huldigung. Sein Stolz bäumt sich gegen den Gedanken auf, in allen Dingen von Gott abhängig zu sein und ihm alle Gaben für Leib und Seele zu verdanken. Da aber die Annahme einer überweltlichen, persönlichen und göttlichen Macht und Weisheit die einzig befriedigende Antwort auf die letzten und tiefsten Fragen der Welt ist, bleibt den Gottesleugnern nur die Wahl, entweder auf jede Antwort zu verzichten oder sich mit unwahren, törichten und unmöglichen Lösungen zufrieden zu geben. Ob sie dabei mit dem alten Heidentum die Naturkräfte selbst vergöttern, oder mit dem Materialismus an eine Gesetzmäßigkeit ohne Gesetzgeber glauben, oder mit dem Pantheismus Gott in der Welt aufgehen, das Unendliche zugleich endlich und den Geistträger zugleich geistlos sein lassen, es sind „Nichtigkeiten“, auf die ihre Gedanken verfallen, Folgen der Verblendung, die ihr „Herz“ (bei den Alten als Sitz der Erkenntnis angesehen) umfangen hält.
Es ist Tragik und Strafe zumal, dass gerade solche Menschen, die infolge der Ablehnung des Gottesglaubens sich in unvernünftige Lösungsversuche verirren, ihre Torheit für hohe Weisheit halten und mit Verachtung auf alle schauen, die noch im Glauben die Lösung aller Welträtsel suchen. Wie weit die Verfinsterung des Verstandes fortschreiten kann, bezeugt die Entwicklung des Heidentums. Es hatte die „Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes“, den Glauben an den unendlich erhabenen, ewigen und wahren Gott aufgegeben, um sich nicht vor seiner Größe beugen zu müssen, und endete schließlich bei der Anbetung goldener oder silberner, steinerner oder hölzerner Götzenbilder, die vergängliche Menschen oder gar Tiere aller Art darstellten und die sie von einer Gottheit bewohnt und beseelt glaubten. Zu stolz, um die Allmacht um Hilfe anzuflehen, warfen sie sich nun vor der Ohnmacht in den Staub.
Weil im Götzendienst, welcher Art er auch sei, das Geschöpf sich von seinem Schöpfer und der Knecht von seinem Herrn los gesagt hat, zieht sich auch Gott von den Abtrünnigen zurück und überläßt sie der unreinen Leidenschaft, nach deren Befriedigung ihr Herz gelüstet. Er will die Sünde und das Laster nicht. Darum verweigert er dem die Gnadenhilfe nicht, der ihrer bedarf und aufrichtig nach ihr verlangt. Aber seine Güte und Langmut hat dort eine Grenze, wo seine Gaben stets missbraucht oder ganz abgelehnt werden. Es ist des Gottlosen eigene Schuld, wenn ihm der Herr schließlich jenes Maß übernatürlicher Kraft versagt, das allein noch imstande wäre, den Absturz in die Tiefe sittlicher Verkommenheit, der weder Seele noch Leib heilig ist, aufzuhalten. Jede Sünde ist in ihrem innersten Wesen eine Abwendung von der Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes und eine Zuwendung zu einer vergänglichen Kreatur. Der Götzendienst in jeder Gestalt aber ist, weil er die „Wahrheit Gottes“ gegen die „Lüge“, den allein wahren Gott gegen Lügengötzen und Wahngebilde vertauscht, ein Geschöpf anstatt des Schöpfers anbetet, die größte Schmach, die dem Herrn angetan wird. Darum fügt der Apostel diesem Vers eine feierliche Doxologie an, um durch den Lobpreis des Allerhöchsten gegen diese Schmähung Einspruch zu erheben.
Es ist ein Gesetz der Gerechtigkeit Gottes, dass er die Sünde durch die Sünde straft, ein Gesetz, das in der ewigen Hölle seine ernsteste Auswirkung erfährt. Das Heidentum ist Widernatur; es stürzt die Ordnung um, die zwischen Schöpfer und Geschöpf bestehen muss. Darum ließ Gott es zu, dass es auch die natürliche Ordnung umkehrte, die unter den beiden Geschlechtern zu herrschen hat: Frauen sündigten mit Frauen durch widernatürlichen Geschlechtsverkehr, ebenso Männer mit Männern. „Wenn schon die Sünden des Fleisches verwerflich sind, da sie den Menschen zu dem herab ziehen, was in ihm tierisch ist, um wieviel mehr noch die Sünde gegen die Natur, durch die der Mensch sogar von der tierischen Natur abweicht“ (Thomas). Diese Sittenverderbnis ist selbst verschuldet; sie ist zugleich auch der „Lohn“, die gerechte Vergeltung für die Abwendung von dem einen wahren Gut.
Solange Gott im Menschenherzen wohnt und der Glaube an ihn das alles beherrschende Lebensprinzip ist, werden die auseinander strebenden Triebkräfte in Zucht gehalten, und ihre Betätigung wird dem großen Ziel der Selbstheiligung untergeordnet. Wo aber die wahre Gotteserkenntnis freventlich ablehnt, da sprengen die nicht mehr zu bändigenden Leidenschaften ihre Fesseln. Sie machen den Menschen zum Sklaven einer niedrigen und verwerflichen Gesinnung und verleiten ihn zu Dingen, deren er sich früher schämte. Paulus zählt die Laster ohne systematische Ordnung auf. Dieses Durcheinander ist ein Bild des geistigen Chaos, das in der menschlichen Gesellschaft entsteht, naturnotwendig entstehen muss, wenn einmal die durch den wahren Glauben gezogenen Schranken nieder gerissen werden. Dann fallen alle Rücksichten, die durch das natürliche Sittengesetz und den Willen Gottes, durch die soziale Gerechtigkeit, durch die Wahrhaftigkeit und Treue, die Liebe und Pietät geboten sind.
Man darf nicht sagen, dass die Heiden die Verwerflichkeit und Strafwürdigkeit ihres Tuns nicht erkannt hätten. Auch in ihnen lebte ein Verantwortungsbewusstsein, und sie vermochten nie das mahnende Gewissen völlig zu ersticken. Aber dieses Bewusstsein war nicht imstande, sie aus der Tiefe ihrer Verkommenheit heraus zu heben. Diese ging vielmehr so weit, dass sie nicht nur selbst die schändlichsten Laster verübten, sondern auch andere dazu verführten und denen Beifall spendeten, die Böses taten. Das in wenigen Strichen gezeichnete Bild von dem sittlichen Elend genügte, um den römischen Christen die Heilsbedürftigkeit der Heidenwelt darzutun und deren Ohnmacht, sich selbst aus Schuld und Gotteszorn zu erlösen, zu beweisen. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XIV, 1937, S. 17 – S. 19