Päpstliches Lehramt
Papst Pius XII. über religiöse Toleranz
Aus der Ansprache an den Verband der katholischen Juristen Italiens v. 6. Dezember 1953 (AAS XLV (1953) 794-802
Vor allem ist eindeutig festzuhalten: keine menschliche Autorität, kein Staat, keine Staatengemeinschaft, welchen religiösen Charakter sie auch immer haben mögen, können einen positiven Befehl oder eine positive Ermächtigung erteilen, etwas zu lehren oder zu tun, was der religiösen Wahrheit oder dem sittlich Guten widerspräche. Ein Befehl oder eine Ermächtigung dieser Art hätte keine verpflichtende Kraft und bliebe unwirksam. Keine Autorität kann sie geben, denn es ist gegen die Natur, den Geist und den Willen des Menschen, zum Bösen und zum Irrtum zu verpflichten oder beides als gleichgültig zu betrachten. Nicht einmal Gott könnte einen solchen positiven Befehl oder eine solche positive Ermächtigung geben, da sie im Widerspruch zu seiner absoluten Wahrhaftigkeit und Heiligkeit stünden.
Wir haben eben die Autorität Gottes erwähnt. Kann Gott obwohl es ihm möglich und leicht wäre, den Irrtum und die sittliche Entgleisung zu unterdrücken, in einigen Fällen das „Nichtverhindern“ wählen, ohne in Widerspruch mit seiner unendlichen Vollkommenheit zu geraten? Kann es geschehen, daß er unter bestimmten Verhältnissen den Menschen kein Gebot gibt und keine Verpflichtung auferlegt, ja ihnen nicht einmal das Recht zugesteht, den Irrtum und das Falsche zu unterdrücken? Ein Blick auf die Wirklichkeit gibt eine bejahende Antwort. Sie zeigt, daß sich Irrtum und Sünde weithin auf der Erde finden. Gott verwirft sie; doch er läßt sie bestehen. Daher kann der Satz: die religiöse und sittliche Verirrung muss immer, wenn es möglich ist, verhindert werden, da es an sich unmoralisch ist, sie zu dulden, nicht in absoluter Unbedingtheit gelten. Anderseits hat Gott auch der menschlichen Autorität kein solches uneingeschränktes und allgemeines Gebot gegeben, weder im Bereich des Glaubens noch in dem der Moral. Ein solches Gebot kennt weder die allgemeine Überzeugung der Menschen, noch das christliche Gewissen, noch die Quelle der Offenbarung, noch die Praxis der Kirche. Um hier die andere Texte der Heiligen Schrift, die sich auf dieses Thema beziehen, beiseite zu lassen, so hat Christus im Gleichnis vom Weizen und vom Unkraut folgende Mahnung gegeben: Laßt das Unkraut auf dem Acker der Welt zusammen mit dem guten Samen wachsen wegen des Getreides. (Vgl. Matth. 13, 24-30) Die Pflicht, sittliche und religiöse Verirrungen zu unterdrücken, kann also keine letzte Norm des Handelns sein. Sie muss höheren und allgemeineren Normen untergeordnet werden, die unter gewissen Verhältnissen erlauben, ja es vielleicht als den besseren Teil erscheinen lassen, den Irrtum nicht zu verhindern, um ein höheres Gut zu verwirklichen.
Quelle: Utz OP/Groner OP, Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens, Soziale Summe Pius XII., Bd. II, 1962, S. 2048-2049 (Hervorhebung hinzugefügt)