Die Visionen der Anna Katharina Emmerich
Gnadenstrom für die streitende Kirche
„Ich sah darnach die Ausgießung des hl. Geistes übergehend in die Wirkungen der Apostel, Jünger, Märtyrer und aller Heiligen, und sah, wie sie um Jesu willen leidend in Jesu und seinem Leib der Kirche litten und dadurch lebendige Adern des Gnadenstromes seines versöhnenden Leidens wurden; ja, da sie in Jesu litten, litt Jesu in ihnen, und aus Jesu war ihr Verdienst, das sie auf die Kirche nieder brachten. Ich sah, welche Menge Bekehrungen durch die Märtyrer geschahen; sie waren wie Kanäle, mit Schmerzen aufgerissen, welche das lebendige Blut der Erlösung zu tausend Herzen führten. Ich sah diese Marter-, Lehr-, Bet- und Bußbilder auch, wie sie in der himmlischen Kirche, als das Wesen vielfacher Kirchengnaden erschienen, die der streitenden Kirche zu gut kamen und in den Festtagen der Heiligen erneuert oder in Besitz genommen wurden. Ich sah die Leiden in Bildern kurz und sah ihre zeitlichen Wirkungen und durch die Ewigkeit ihres Inhaltes und ihres Wertes aus Jesu Leiden ihre ewigen Wirkungen in der Kirche und zwar durch den verbindenden Kanal der Feste, des lebendigen Glaubens, des Gebets, der Andacht und gottseliger Werke. Ich sah, welche unsäglichen Schätze und Gnaden die Kirche hat, und wie übel einzelne Glieder mit ihnen wirtschaften. Es ist, als wenn ein herrlicher Garten über einem verwüsteten Land stünde und tausend und tausend Schätze nieder senkte, die unten nicht empfangen würden, so daß die Felder verwüstet und die Schätze verschleudert blieben. Ich sah die irdische Kirche, d. h. die irdische Gemeinschaft der Gläubigen, die Herde Christi in ihrem zeitlichen Zustand auf Erden, ganz dunkel und wüst; und wie ich da oben in der Höhe den vollkommenen Jahreskreis der Gnaden-Austeilung gesehen, so sah ich unten die Trägheit, den Unglauben und die Gottlosigkeit im Empfang. Alles ward so schläfrig und leichtsinnig gefeiert, daß die Gnaden, welche in dieser Feier empfangen werden sollten, an die Erde fielen und viele Schätze der Kirche zu Schulden wurden. Ich sah dieses im Allgemeinen und in unzähligen Bildern. Ich sah auch, daß alle solche Versäumnis durch Schmerzen versöhnt werden müsse, indem sonst die streitende Kirche nicht mit der triumphierenden für dieses Jahr abrechnen könnte und noch mehr fallen müsste. Ich sah aber, wie die hl. Jungfrau die Ausgleichung besorgte, und das war der Schluß jener Arbeit, welche ich am St. Katharinentag in dem Hochzeitshaus mit der hl. Jungfrau unternommen hatte, welche in der Form eines mühsamen Einsammelns von allen Früchten und Kräutern und aller schweren Bereitung bestand und auch wieder in unzähligen Bildern von Kirchenwäsche und Reinigungen. Es ist dies schwer zu beschreiben, denn die ganze Natur und die Menschen sind so gefallen und in einem solchen gebundenen und verschlossenen Zustand, daß die Bilder, in welchen ich dort etwas ganz Wesentliches tue und ohne Verwunderung auch verstehe, was ich tue, sobald ich erwacht im natürlichen Zustand bin, mir so seltsam vorkommen, als jedem andern Wachenden. So musste ich z. B. Honig aus Disteln pressen mit meinen Händen und musste diesen Honig zur Ausgleichung der Kirchenrechnung der hl. Jungfrau bringen, welche ihn wieder beim Kochen brauchte und in einem erhöhten Zustand denen in der Speise zukommen ließ, welchen er fehlte.
Dies aber bedeutet so viel als:
es ist von den Kirchengliedern während des Kirchenjahres von jener Gnade Gottes, welche durch Fleiß aus vielen Formen seiner Liebe gesammelt und zu einer erquickenden Süßigkeit bereitet werden sollte, Vieles versäumt, verderbt und verschwendet worden, und viele Seelen, welche dieser also zubereiteten Gnade bedurft hätten, sind darum verschmachtet und verwildert; der Herr aber hatte aus der triumphierenden Kirche Alles dazu gegeben, und die streitende muss sich nun ausweisen und muss die Gaben mit Zinsen und Wucher ersetzen. So fehlt ihr also in der Abrechnung über die Anwendung und Verwaltung der Schätze der triumphierenden Kirche so viel Honig, denn jene Gnade war aus Gott das, was in der Körperwelt als Honig erscheint, und dieser Honig muss herbei. Was aber in der Zeit der Blumen bei sorgsamer Bienenzucht, mit leichter Mühe gesammelt werden konnte, wird, verabsäumt, jetzt mit Pein und Mühe herbei geschafft. Diese Blumen sind verschwunden und nur die Distel steht noch da. Ein Glied des Kirchenleibes wird vom barmherzigen Jesus gebraucht und bringt seine Pein und Schmerzen zum Opfer für die Versäumnisse der Andern und drückt mit blutenden Händen aus den stacheligen Disteln den Honig heraus; und die hl. Jungfrau, die Mutter der Kirche, wendet in dem Kochen diesen Honig dahin, wo die Gnadengabe, die unter dem Honig begriffen ist, von der Kirche verschuldet worden ist in diesem Jahr. Auf diese Weise war meine Marter während dieser Tage und Nächte unter den mannigfaltigsten Arbeitsbildern gefaßt, und ich sah immer die beiden Kirchen und sah mit der Tilgung der Schuld die untere aus dem Dunkel hervor steigen.“ –
aus: K. E. Schmöger CSsR, Das Leben der gottseligen Anna Katharina Emmerich, Zweiter Band, 1873, S. 90 – S. 92