Der 2. Brief des heiligen Apostels Paulus an Timotheus 3. Kapitel

Es stehen schwere Zeiten bevor: die Keime der Höllensaat gehen auf

1. Der Vater, der die Zeit heran nahen sieht, da er seine Familie verlassen muss, wird mit großer Sorge an deren Zukunft denken. Ähnlich ergeht es Paulus, dem geistigen Vater vieler Christus-Familien. Er sieht viel reine, glühende Christus-Begeisterung in seinen Gemeinden, aber auch die Keime des Bösen, des Irrtums und der sittlichen Verderbnis bleiben seinem Auge nicht verborgen. Er kennt die Welt und die Menschen zu gut, um zu wissen, dass diese Keime der Höllensaat in immer größerer Üppigkeit aufgehen werden. Und sein Gott erleuchteter Geist schaut die abscheuliche Verwilderung, die einmal um sich greifen wird. Als Zeitpunkt dieser Verfalls-Erscheinung nennt er die letzten Tage, worunter im neu-testamentlichen Sprachgebrauch die Zeit vor der Ankunft Christi verstanden ist. Man darf dabei nicht vergessen, dass Paulus sich dieses Ereignis in nicht allzu ferner Zukunft vorgestellt hat. Auch der Heiland malt jene Tage in düsteren Farben (vgl. Matth. 24, 9-28).

2. In einem ausführlichen Lasterkatalog will der Apostel die Verworfenheit jener Zeitenwende näher schildern. Nicht nur die außerchristliche Welt ist davon ergriffen, sondern auch im Reiche Gottes breitet sich die Verwilderung aus, wie aus den Versen 5-6 hervor geht. Das Ich wird zum Götzen erhoben, dem jeder in krassestem Egoismus und niedrigstem Materialismus zu dienen sucht. Bindungen der Liebe, Treue und Dankbarkeit gibt es nicht mehr, weder gegen Gott noch gegen einen Menschen, und mag man ihnen, wie z. B. den Eltern, noch soviel Gutes verdanken. Gottlosigkeit und Pietätlosigkeit, Hochmut und Aufgeblasenheit, Zuchtlosigkeit und Genusssucht drücken jener Zeit ihren Stempel auf.

5. Das Diabolische, Teuflische dieser Sitten-Verwilderung zeigt sich darin, dass die Menschen es wagen, ihrer inneren gottlosen Gesinnung den Mantel der Gottesfurcht umzuhängen. Sie sprechen von Gott und glauben gar nicht an ihn; sie nennen seinen Namen und besudeln ihn durch ihr Leben; sie rufen ihn öffentlich an, verpflichten in seinem Namen, geben vor, die Wächter und Förderer seiner Verehrung zu sein, während sie gleichzeitig das Gift eines falschen Glaubens, eines verschwommenen Gottesbegriffes und einer willkürlich falschen Schriftauslegung in bewußter und zielstrebiger Volksverführung in die Herzen träufeln. Den Vorwurf der Gottlosigkeit und Ungläubigkeit weisen sie entrüstet zurück, gleich als ob das Wort des Sohnes Gottes: „Wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt auch den Vater nicht“ (Joh. 5, 23), niemals gesprochen worden wäre. Und das ist das Gericht über diese heuchlerischen und Gott vergessenen Menschen, „dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen die Finsternis mehr liebten als das Licht“ (Joh. 3, 19); darum sind sie in den Augen Gottes und auch in den Augen der Gottgetreuen schon gerichtet weil sie nicht an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes glauben (Joh. 3, 18).

7. Diese Andeutungen beruhen wohl auf gewissen örtlichen Erfahrungen. Die Propheten des Irrtums entfalteten ihre Werbetätigkeit zunächst dort, wo sie mit ihrer Lehre die durch die Befriedigung sündhafter Lüste belasteten Gewissen beruhigen konnten. Und diese betörten Menschen griffen begierig nach dem neuen Evangelium, weil sie so unter einem religiös verbrämten Deckmantel den seitherigen Lebenswandel fortsetzen konnten. Sie sind eifrige Schüler und wollen immer noch mehr lernen und lernen doch nicht aus, bemerkt der Apostel in feiner Ironie. Denn wer einmal darauf ausgeht, die Religion seinen Leidenschaften anzupassen, wird alle Augenblicke merken, dass das Gewand zu eng geworden ist.

8. Die Absichten der Widersacher Gottes werden vereitelt, ihr Ziel wird nicht erreicht werden (Vers 9). Gott wird ihnen eines Tages auf irgend eine, im Geheimnis seiner Weltregierung vorgesehenen Weise Halt gebieten. Zum Beweis dessen erinnert der Apostel an den Bericht im 2. Buch Moses (7, 8-12). Aaron hatte auf Gottes Geheiß seinen Stab vor Pharao nieder geworfen. Der Stab wurde in eine Schlange verwandelt. Pharao berief seine ägyptischen Zauberer, die unter Anwendung ihrer Geheimkünste das gleiche vollbrachten. Aber der Stab Aarons verschlang die Stäbe der Zauberer. Mochte auch das herz des Pharao verstockt und verhärtet bleiben, die Ohnmacht der ägyptischen Zauberkünstler und die Allmacht des einen wahren Gottes war erwiesen. So wird jedweder religiöser Zauber, der den wahren Glauben verdrängen will, eines Tages in seiner ganzen Armseligkeit entlarvt sein. Die jüdische Legende gab den genannten Zauberern die Namen Jochane und Mamre, im Text der lateinischen Bibelübersetzung heißen sie Jannes (Jamnes) und Mambres. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XV, 1937, S. 378 – S. 380