Apokalypse – Das Lamm schützt sie Seinen

Das Lamm schützt die Seinen. Kap. 14, Vers 1-5. Schwächlinge taugen nicht zur Keuschheit

In vierfacher Weise gibt nun der Seher nähere Auskunft über die Hundert vierundvierzig tausend Losgekauften, die allein imstande sind, das neue Lied zu lernen. Dabei verwendet er wirkungsvoll dreimal die gleiche feierliche Einführungsformel: „Das sind die, die…“ Zunächst werden sie als jungfräulich keusche Menschen bezeichnet, und zwar, wie der griechische Text besagt, als jungfräuliche Männer. Weder darin noch in dem realistischen Ausdruck: „die sich mit Weibern nicht befleckten“, liegt eine Minderbewertung des Frauengeschlechtes. Dieser Ausdruck ist nämlich nicht vom Gott gewollten Verkehr in der Ehe, sondern von Unzuchtssünden mit verheirateten oder unverheirateten Frauen zu verstehen. Davor sich zu bewahren, forderte wegen der sehr laxen Geschlechtsmoral des damaligen Heidentums ein hohes Maß von Selbstbeherrschung. Aber weit darüber hinaus haben die Hundert vierundvierzig tausend Getreuen des Lammes in gänzlicher Hingabe ihres Leibes und ihrer Seele an Gott auf jegliche Aktivierung der geschlechtlichen Anlage freiwillig verzichtet. Sie tragen also auch als Männer den Titel „Jungfrauen“ im ehrenvollsten religiösen Sinne des Wortes. Ohne Opfer und lebenslängliche Selbstzucht bewahrt keiner dieses Ideal. Es fordert Heroismus der Gesinnung und der Tat; Schwächlinge taugen nicht dazu. Darum sind gerade diese jungfräulichen Helden würdig befunden worden, die Leibgarde des Lammes, die Kerntruppe seiner Krieger zu bilden. Es entspricht also durchaus dem Bildganzen, wenn hier im Kriegslager auf Sion nur Männer erwähnt sind. Wie groß die Schar der „Jungfrauen“ weiblichen Geschlechtes in der Kirche der Endzeit sein wird, steht in dieser Vision gar nicht zur Frage.

Ein anderer Gesichtspunkt läßt den Sinn der jungfräulichen Unversehrtheit der hundert vierundvierzig tausend Kämpfer noch tiefer verstehen… Nun stehen (…) die Hundert vierundvierzig tausend nicht nur vorübergehend im Kriegsdienst für die heiligsten Güter, für das Gotteslamm und sein reich auf Erden; sie haben sich dieser Aufgabe ganz und für immer geweiht. Darum ist stete jungfräuliche Reinheit für sie Ehrensache. Keine noch so edle Sorge um Weib und Kind, erst recht kein unmännliches Nachgeben gegenüber den Regungen sinnenhaften Trieblebens soll ihre Kampfkraft schwächen oder ihr Wesen teilen zwischen dem Lamm und einem geliebten Menschen. Daß die Kirche von ihren Priestern, die doch die Kerntruppe des Christkönigs sein sollen, seit langem den Zölibat verlangt, wird im Offenbarungs-Licht dieser Vision als folgerichtig erkannt, nicht als aufgenötigtes Müssen, sondern als freies und befreiendes Verzichtleisten in der Ganzheit mannhafter Gefolgschaft Christi.

Der biblische Sprachgebrauch hat schon früh eine andere Deutung des wichtigen Verses nahe gelegt. Das Verhältnis Gottes zu seinem Volk wird gern als Ehebund, als bräutliche Liebe dargestellt. Rein und jungfräulich wird in diesem Sinne genannt, wer Gott die Treue wahrt; wer jedoch den Götzen dient, treibt Unzucht und ist ein Ehebrecher, ganz abgesehen davon, daß der Götzendienst oft mit sexualen Ausschweifungen verbunden war. Die Hundert vierundvierzig tausend im Gefolge des Lammes sind aber gerade jene, die den Lockungen und Drohungen dem wirtschaften Boykott und allen Verfolgungen zum Trotz dem Lamm treu geblieben sind und das Tier oder sein Bild nicht angebetet haben. Sie sind das, was Paulus aus der Gemeinde von Korinth zu machen bestrebt war: „Ich bin nämlich eifersüchtig auf euch mit Gottes Eifersucht; denn ich habe euch einem einzigen Mann verlobt, um euch als eine reine Jungfrau Christus zuzuführen“ (2. Kor. 11, 2) Ein nicht belangloses Bedenken gegen die Beziehung des 4. Verses auf die Sünde des Götzendienstes liegt jedoch darin, daß die Bibel in der Regel diese Sünde dann als Ehebruch bezeichnet, wenn es sich um eine Gemeinschaft, um das ganze Volk oder eine Gemeinde handelt. In der Vision auf dem Sion aber werden die einzelnen Getreuen gelobt, weil sie die jungfräuliche Keuschheit bewahrt haben. Es dürfte demnach richtiger sein, an wirklich jungfräuliche Menschen zu denken.

Zum Lohn für ihre Treue in Reinheit und Jungfräulichkeit dürfen nun die Hundert vierundvierzig tausend „dem Lamm folgen, wohin immer es geht“. Dieser Satz wird heute durchweg auf die himmlische Seligkeit bezogen, auf ein beglückendes Wandern der heiligen Jungfrauen durch die wonnigen Gefilde des Himmels als eine Art Hofstaat des Lammes, wobei sie Psalmen in den Händen halten, weiße Festkleider tragen und das Jubellied singen, das sonst niemand singen kann. Unvermerkt werden aber dabei die verschiedenen Visionen 7, 9-17 und 14, 1-5 ineinander geschoben. In der Liturgie des Allerheiligsten-Festes ist das in der Antiphon zum Magnifikat der zweiten Vesper wirklich geschehen, indem nicht bloß die Jungfrauen, sondern alle Heiligen einbegriffen werden: „O wie herrlich ist das reich, in dem mit Christus alle Heiligen sich freuen. Angetan mit weißen Kleidern, folgen sie dem Lamm, wohin immer es geht.“ Auch am Fest der unschuldigen Kinder wird das jenseitige Glück der jugendlichen Märtyrer durch vereinigte Texte aus den beiden eben erwähnten Visionen beschrieben. Daß in der Liturgie nicht der nächste Sinn der Vision festgelegt werden soll, ergibt sich schon aus der Zahl der Getreuen bei dem Lamm auf dem Sion, verglichen mit der Zahl der ermordeten Knäblein von Bethlehem und Umgebung, deren es etwa 70 – 80 gewesen sein mögen.

Der unechte Zusatz „vor dem Thron Gottes“ am Schluss der Perikope hat die liturgische Verwendung und die Deutung auf die Seligen des Himmels mitbestimmt. Aber die Beziehung auf die triumphierende Kirche des Himmels entspricht nicht dem eigentlichen Sinn der Nachfolge des Lammes; die Worte besagen vielmehr in apokalyptischer Prägung, daß die Hundert vierundvierzig tausend, die Johannes auf dem Sion bei dem Lamm schaut, während ihres Erdenlebens vollen Ernstes machen mit dem Wort Christi: „Wenn jemand mir nachfolgen will, so verleugne er sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, wird es retten“ (Luk. 9, 23f). Statt des bequemen Lebens der Tieranbeter haben diese Helden in letzter Opferbereitschaft den Kreuzweg ihres göttlichen Vorbildes beschritten. Noch immer wandeln sie darauf, wie das Präsens „sie folgen“ es anzeigt. Ihr Vertrauen zu ihrem Anführer, dem Lamm, ist so groß, daß sie ihn allein bestimmen lassen, wohin der Weg gehen soll. Sie folgen einfach in heiliger Bereitschaft. Ihr Eifer für die Sache Christi überschreitet alles Mittelmäßige, bloß Pflichtgemäße. Sie bilden die Armee der Freiwilligen und schrecken vor keinem Opfer zurück. So hat, wie es der Brief der Gemeinden von Vienne und Lyon beweist, die Märtyrerkirche des 2. Jahrhunderts die Nachfolge des Lammes aufgefaßt. Da wird von Bettius Epagathus berichtet, er habe unerschrocken seinen Glauben bekannt und sei bereit gewesen, zur Verteidigung seiner Brüder das Leben zu opfern: „Er war und ist ein echter Christusjünger, der dem Lamm folgt, wohin immer es geht“ (Eusebius, Kirchengeschichte 5, 1). Nicht anders hat ein Menschenalter später Origenes über die Nachfolge des Lammes gedacht. Wem echter Bekennermut und Märtyrergeist fehlt, taugt nicht zu dieser Nachfolge. Darum vermochte Petrus am Abend vor dem Leiden trotz der prahlerischen Beteuerungen seinem Meister noch nicht zu folgen (Joh. 13, 36ff). Später aber erging an ihn die Aufforderung zur Gefolgschaft bis ins Martyrium (Joh. 21, 18ff). –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI.2, 1942, S. 209 – S. 212
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