Kennzeichen der Kirche
Die Kirche ist äußerlich sichtbar
Daß Christus eine sichtbare, d. h. äußerlich erkennbare Kirche gestiftet hat, wird noch klarer, wenn wir betrachten, worin diese Sichtbarkeit besteht und nach der Lehre der Apostel bestehen muss. Die Kirche ist sichtbar
1. in ihren Vorstehern und Gliedern; sie besteht aus sichtbaren Vorgesetzten und sichtbaren Untergebenen wie jede andere Gesellschaft von Menschen. Der Apostel ermahnt die Bischöfe (Apgsch. 20, 28), acht zu haben auf ihre ganze Herde: wie wäre das möglich, wenn dieselbe unsichtbar wäre? Derselbe fordert im Hebräerbrief (13, 17) die Gläubigen dringend auf, „den Vorstehern zu gehorchen und ihnen untertänig zu sein“. Wie ließe sich aber diese Aufforderung mit der Unsichtbarkeit der letzteren zusammen reimen?
2. Die Kirche ist sichtbar oder wahrnehmbar in der Verkündigung und dem Bekenntnis ihrer Lehre. Dem Auftrag ihres göttlichen Stifters gemäß soll in der Kirche und durch die Kirche die frohe Botschaft des Heiles allen Völkern verkündet werden. Unterbliebe diese öffentliche Verkündigung, so würde auch der Glaube von der Erde verschwinden. Denn der „Glaube kommt von der Verkündigung, die Verkündigung aber geschieht durch das Wort Christi“. (Röm. 10, 17) Daher wurde stets (…) der christliche Glaube von tausend Lehrstühlen und Kanzeln herab verkündigt, von den heilsbegierigen Gläubigen vernommen und vor aller Augen durch Wort und Tat bekannt.
3. Die Kirche muss sichtbar sein und ist es auch im Opfer und in der Spendung der hl. Sakramente. Oder wie könnte der Apostel (Hebr. 13, 10) von einem Opferaltar und (1. Kor. 10, 16-21) vom Brechen des Brotes und Segnen des Kelches sprechen, wenn es in der Kirche kein sichtbares Opfer, keine Feier des Abendmahles gäbe? Desgleichen spendet die Kirche der Anordnung Christi gemäß in sinnlich wahrnehmbarer Weise die hl. Taufe, die Lossprechung von den Sünden, kurz, alle hl. Sakramente. Die Sichtbarkeit der Kirche in Zweifel ziehen, hieße mithin nicht bloß dem ausdrücklichen Wort Christi und der Apostel, sondern auch dem unabweislichen Zeugnis der sinne und der gesunden Vernunft widersprechen.
Hiermit soll allerdings nicht gesagt sein, daß es in der Kirche Christi nichts gebe, was sich unsern Sinnen entzöge, nichts, was unsichtbar wäre; man zählt ja auch den Menschen zu den sichtbaren Wesen, will aber damit keineswegs behaupten, es gebe nichts im Menschen, was nicht unter die Sinne fiele. Wie der Mensch einen sichtbaren und einen unsichtbaren Bestandteil hat, nämlich Leib und Seele, so besteht auch die Kirche aus einem sichtbaren und einem unsichtbaren Element, gleichsam aus Leib und Seele. Unter Leib der Kirche versteht man alles das, was an ihr äußerlich wahrnehmbar ist; ihre Verfassung und Verwaltung, ihr Oberhaupt, ihre Vorsteher und ihre verschiedenen Glieder, ihre sichtbaren Heilsmittel, die Spendung der Sakramente, die Predigt des göttlichen Wortes usw. Unter Seele der Kirche hingegen begreift man alles das, was man an ihr mittelst der sinne nicht wahrnehmen kann, wie da ist der Glaube, die Hoffnung, die Liebe, das Leben der Gnade, die Gaben des Hl. Geistes, insoweit nämlich dieses alles nicht durch Wirkungen nach außen sich kund gibt. –
aus: Joseph Deharbes größere Katechismuserklärung, Bd. 1, 1911, S. 495 – S. 496