Das Königliche Gebot
Taten der Liebe „Kindlein, lasset uns nicht mit Worten und der Zunge lieben, sondern in der Tat und Wahrheit!“ (1. Joh. 3, 18)
Du sitzest im Abenddämmern in deinem Stuhl und hängst deinen Gedanken nach, deinen Gedanken über die Menschheit – da draußen durch die Straßen der Weltstadt eilen sie, die Menschen, Kinder des Augenblicks und doch Kinder der Ewigkeit, Kinder der kleinen Not und zugleich Kinder des großen Gottes, fast alle dir fremd und doch deine Brüder … Da erfasst dich ein Gefühl der Liebe für die Menschen; du wirst weich und dann stehst du auf gehst in deinem Zimmer auf und ab … unruhig … es ist, als hätte dich jemand gerufen.
Was für ein Ruf ist`s, der da an dein Ohr, in deine Seele drang von ferne her? Es war der Schrei der Menschheit, der dich anrief, aufrief zu einer Tat der Liebe. Vielleicht hattest du zuvor eines jener modernen Bücher gelesen, die uns unbarmherzig das grausame Elend der verlorensten Erdenwinkel und der letzten Menschenklassen schildern, ein sozialwissenschaftliches, etwa wie Rühles Buch vom „Proletarischen Kind“ oder eines aus der sozialen Dichtung wie Gorkis „Nachtasyl“ oder Hauptmanns „Weber“. Oder vielleicht hattest du ein wenig im Buch der Wirklichkeit geblättert, bist selber eben erst heute in einem der Armenviertel, in einer kalten Mansardenstube, in einem Asyl für Obdachlose gewesen, und nun klingt er dir noch in der Seele nach und schwillt wieder stärker an „der Menschheit Jammerschrei“. Die leidende Menschheit kann auch ihrerseits sagen, als eine mater dolorosa sagen: „Groß wie ein Meer ist mein Schmerz.“
All dieser ungestillte Hunger auf Erden, all diese frierende, obdachlose Blöße, all dieser gedemütigte Menschenstolz, all die Sorgen erdrückte, Leid erstickte Menschenfreude, all diese, unter schwerer Arbeit sich aufreibende Menschenkraft, all diese absterbende Menschengesundheit, all dieses im Schatten des Unglücks abwelkende Menschentum – es ruft, es schreit … und wonach schreit es? O, nicht nach Phrasen und billigen Reden, nicht nach weichen Gefühlen und Stimmungen – lieber ist ihm noch die offene Selbstsucht des reichen Prassers als die nicht weniger grausame, aber mit schönen Worten sich schmückende Lieblosigkeit manches angeblichen Menschenfreundes. Das Elend der Welt ruft nach der Tat der Liebe – oder wohlbesser gesagt – nach der Liebe der Tat.
Wohl ist es erst notwendig, daß die Armen und Elenden selber mit Ungestüm aus der Tiefe herauf rufen und fast als ihr Recht Taten der Liebe von uns verlangen? Drängt denn nicht das eigen Herz, wenn es überhaupt Liebe in sich hat, zu solchen Taten? Caritas urget. Die Liebe selber, wenn sie echte Liebe ist, gibt sich nicht zufrieden mit schönen Träumen und Reden, sie will wie jede echte Kraft wirken, sich betätigen, Taten tun. Die kleine Körperkraft eines Kindes schon will etwas tun, die Geisteskraft des Genies will schaffen; und auch die edelste Kraft, die Kraft der Liebe, hat in sich den Drang zur Tat, zum Helfen, Heilen, Dienen, Schenken, Schützen, trösten.
Wenn wir dieses innere Drängen zu liebevoller Tat nicht empfinden, dann ist es ein sicheres Zeichen, daß auch die Liebe nicht in uns ist. Und wenn wir es zwar fühlen, aber ihm nicht folgen, dann wird auch an der Kraft der Liebe das alte Gesetz sich erfüllen: jede nicht betätigte Kraft stirbt ab. Eine untätige, schlafende Liebe ist eine sterbende Liebe. Der Schlaf ist wirklich der Bruder des Todes. Jene weise Seelenkennerin (M. Ebner-Eschenbach) hat recht: „Wenn du nicht aufhören willst zu lieben, so musst du nicht aufhören Gutes zu tun.“
Zu der Stimme aus der Tiefe menschlicher Not und zu jener zweiten Stimme aus dem Innern unsrer eignen Brust gesellt sich noch eine dritte Stimme, die uns zur Tat auffordert, eine Stimme aus der Höhe: die Stimme Gottes. Er, der selber nicht nur die ewige Liebe, sondern auch die ewige Tat ist, er, der rastlos und unermüdlich seit Ewigkeit Wesen jeglicher Art beschirmt und beschenkt und beseligt, der den nach Atzung schreienden Vogel wie den um ewige Seligkeit flehenden Menschen befriedigt, er will nichts anderes, als daß wir teilnehmen an seinem Werk und Wesen. Tausend Möglichkeiten gibt er uns, gleich ihm Gutes zu tun, Mitarbeiter Gottes und seine echten Kinder zu sein, und unzählige Mahnungen, von diesen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Das Alte und Neue Testament ist voll von diesen Mahnungen; vielleicht wird kein Ding darin öfter eingeschärft, als dies, den Nächsten zu lieben, und zwar tatkräftig zu lieben, „den Blinden Auge“ zu sein und „Fuß den Lahmen“ und „den Armen Vater“. Den Höhepunkt dieses göttlichen Drängens bildet wohl die Schilderung, die der Sohn Gottes vom Weltgericht so gewaltig entwirft, und in ihr das niederschmetternde Gotteswort, das an die Untätigen einst gerichtet werden soll: „Weichet von mir, ihr Verfluchten – ich war hungrig und ihr habt mich nicht gespeist …, ich war durstig und ihr habt mich nicht getränkt …, ich war fremd und ihr habt mich nicht beherbergt …, ich war krank und im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht …“ (Mt. 25, 41-43)
Doch nein, vielleicht war eine noch rührendere Art jenes göttlichen Drängens, die, als Jesus, nachdem er Blinde und Kranke geheilt, Tote erweckt, Sünder bekehrt, Traurige getröstet hatte, am Ende seines Erdenwallens seinen Freunden auf denKnien die Füße wusch und sich dann erhob mit den Worten: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben!“
Den eigentlichen Höhepunkt jenes göttlichen Drängens aber bildete es wohl, als der Herr zu einer letzten, ungeheuren Tat der Liebe das Kreuz bestieg. Verstehen wir diese Hieroglyphe der Liebe, verstehen wir es, was der Gekreuzigte der Welt sagen will?
Die Armen und Elenden in der Welt bitten uns, die Liebe im eigenen Herzen drängt uns, Gott in der Höhe selber befiehlt es uns: „Kindlein, lasset uns nicht in Worten und mit der Zunge liebe, sondern in der Tat und Wahrheit!“ –
aus: Bonifaz Wöhrmüller OSB, Das königliche Gebot, 1929, S. 31 – S. 34