Apokalypse – Die zwei Tiere
Die zwei Tiere. Kap. 13 Vers 5-6. Das Tier kann Lüge und Lästerung zum Grundsatz erheben
Das Geheimnis der Bosheit wirkt sich weiter aus, und zwar unter Zulassung und nach dem Willen Gottes, wie es in dem zweimaligen „Es wurde ihm gegeben“ gesagt ist. Gott ist als der Gebende gemeint. Der Drache hätte seinem Helfershelfer zwar das Lästermaul geben können, aber nicht die Dauer des blasphemischen Treibens zu bestimmen vermocht. Wieder ist es die gleiche Zeit wie 11, 2 u. 3; 12, 6; die gleiche auch wie bei Dan. 7, 8 u. 25, wo von dem „kleinen Horn“, das heißt von Antiochus Epiphanes gesagt wird, er habe ein Lästermaul und werde vermessene Reden gegen den Allerhöchsten führen und die Heiligen des Allerhöchsten misshandeln eine Zeit und zwei Zeiten und eine halbe Zeit. Daß nichts anderes die Aufgabe des Tieres ist, hat der Seher schon in der kurzen vorläufigen Erwähnung (11, 7) bemerkt. Um den mächtigen Einfluss zu überwinden, den das Wort und die Wunderzeichen der zwei Zeugen ausüben, scheut das Tier vor keiner großsprecherischen Lüge und keiner Gotteslästerung zurück. Im Kampf gegen Gott und sein Reich hat es keine positiven Argumente, noch weniger moralisch einwandfreie Leistungen aufzuweisen. Aber weil es keinen Widerspruch duldet, kann es die Lüge und Lästerung zum Grundsatz erheben und hemmungslos davon Gebrauch machen, überzeugt, daß „immer etwas davon hängen bleibt“. Die Lüge ist seine ureigenste Domäne. „Wahrheit ist überhaupt nicht in ihm. Wenn er die Lüge redet, so redet er aus seinem Wesen heraus, denn er ist ein Lügner und der Vater der Lüge“ (Joh. 8, 44). Während dieser Herrschaft der Lüge ist die Wahrheit mundtot gemacht oder vermag sich nicht mehr durchzusetzen. Es geht ihr, wie es im Volksmund heißt: Ehe die Wahrheit die Stiefel angezogen hat, ist die Lüge schon dreimal um die Welt gelaufen.
Durch die Lästerreden des Tieres wird in den Menschen jene seelische Haltung erschüttert, die stets sich als aufbauende Kraft in der Geschichte erwiesen hat: die aus dem rechten Staunen geborene Ehrfurcht. Max Wundt hat in seiner Schrift „Aufstieg und Niedergang der Völker“ (München 1940) vom Standpunkt des Philosophen dargetan, wie die Gefährdung und der Verfall der Blütezeiten der Völker in ursächlichem Zusammenhang mit dem Schwinden der Ehrfurcht stehen. Ist ein Volk dahin gekommen, daß es keine Ehrfurcht mehr aufbringt vor dem Walten überweltlicher Kräfte, so ist es am Ende seiner schöpferischen Periode angelangt. Je höher die Technik steigt, um so tiefer sinkt das gläubige Staunen, das „thaumazein“. Schon die Jugend kann sich nicht mehr wundern und damit bald auch nicht mehr „begeistern“ in des Wortes ursprünglicher Bedeutung: sich erfassen und hinreißen lassen vom Wehen des Geistes, der über den Menschengeist Macht hat. „Je mehr“, schreibt Wundt, „der Mensch die Bedingungen seines Daseins in den Griff bekommt, um so mehr fühlt er sich als ihren Herrn und glaubt, ihnen keine Ehrfurcht mehr schuldig zu sein. In einer entgötterten Welt haben Gefahren nichts Schicksalhaftes mehr und wecken keinen Glauben, sondern höchstens Aberglauben. Wie viele Kraftfahrer mögen ihre Seele wohl Gott befehlen? Aber das Glücksmännchen baumelt hinten am Wagen.“
Ist diese Geisteshaltung in einer Zeit vorherrschend geworden, dann braucht der Antichrist kaum noch Widerstände bei der Masse zu befürchten.
Der Erfolg steigert seine Frechheit. Wer grundsätzlich lügt, kann keine Ehrfurcht vor Gott haben, der die Lüge verabscheut, weil er die Wahrheit selber ist. Nichts ist ihm heilig, weder Gott noch Gottes heiliger Name, das heißt wohl Gottes heilige Offenbarung, weder der Himmel, das Wohnzelt Gottes, noch die Engel und Seligen, die darin ihre ewige Heimat gefunden haben. Das Tier weiß, daß der Jenseitsglaube viele Menschen an Gott bindet. Diesen Glauben als leeren Wahn lächerlich zu machen, läßt es sich besonders angelegen sein. Sind nämlich die Menschen einmal so weit, daß sie um jeden Preis sich das Erdenleben schön machen, während sie mit dem frivolen Heinrich Heine erklären: „Den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen“, dann hat der Teufel keine Last mehr mit ihnen. Das gilt auch, wenn wir den Ausdruck „die im Himmel ihr Wohnzelt haben“ nicht auf die Engel und Seligen im Jenseits beziehen, sondern auf die Christen hienieden, da sie ihre wahre Heimat im Himmel haben (Phil. 3, 20; Hebr. 13,1 4; 1. Petr. 1, 1). So ständen sie auch hier im Gegensatz zu „denen, die auf Erden wohnen“ (vgl. 6, 10). –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI.2, 1942, S. 191 – S. 193
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