Das Königliche Gebot

Lieblose Liebe „Wenn ich alle meine Habe zur Speisung der Armen gäbe, aber die Liebe nicht hätte“ (1. Kor. 13, 3)

Dieses Bruchstück eines Wortes aus dem berühmten 13. Kapitel des 1. Korinther-Briefes verdient eine viel ernstere Beachtung, als man ihm gewöhnlich schenkt. Es enthält scheinbar einen Widerspruch. In Wirklichkeit aber einen tiefen Sinn. Es sagt uns, daß es, wie eine „Liebe“ ohne Liebeswerke, so auch „Liebeswerke“ ohne Liebe gibt; es sagt, daß einer selbst Millionen den Armen austeilen kann, ohne auch nur für einen Pfennig Liebe zu besitzen, daß man unendlich viel Gutes tun kann, ohne selber auch nur ein wenig gut zu sein. Angedeutet hat diese Wahrheit übrigens schon im Altertum einer (Äschylus), da er von einer „lieblosen Liebe“ sprach.

Wieviel menschliche Schwächen bedienen sich nicht des lichten Engelgewandes der Liebe als einer kleidsamen Maske? Da ist unter den ersten die Feigheit. Nietzsche, dieser argwöhnische Zergliederer christlicher Nächstenliebe, sagt sogar, Feigheit sei die größte Almosengeberin. Die Feigheit fürchtet das Gerede der Menschen, den Unmut der Massen, das Missfallen hoher und allerhöchster Personen, das der unverhüllte Geiz des Reichen wach rufen würde, und darum tut sie, wenn auch schweren Herzens, einiges Gute und deckt die aufreizende Geizigkeit der Seele mit dem erborgten Mantel der Liebe zu.

Man kann übrigens auch feig sein vor sich selbst. In glänzendem Reichtum leben, während die andern in Armut sterben, in rauschender Seide gehen, während andere ihre Blöße kaum zu bedecken wissen, an voll besetzten Tafeln schmausen, während Tausenden der Hunger aus den Augen funkelt – dieser schreiende Gegensatz lässt auch aus tiefem Schlaf das bessere Ich manchmal wieder erwachen, um noch einmal die alte Mahnung zu wiederholen: „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst!“ Wenn auch nun der reiche Prasser sich nicht dazu aufraffen wird, dieses Gebot wirklich zu halten, so wird er doch aus Furcht vor diesem quälenden besseren Ich hingehen und einige Heller einem Bettler zuwerfen oder einer Kinder-Christbescherung einen kleinen Betrag zuschicken… im Engelskleid der Liebe: die Feigheit!

Auch Eigennutz und Streberei, Ehrgeiz, Gewinnsucht und Eitelkeit borgen sich gerne dies Kleid. Den Mantel der Liebe trägt mancher nur deshalb, weil Könige und Präsidenten an diesen Mantel mit Vorliebe ihre Orden heften. Der himmlisch weiße Mantel der Liebe ist auch das Kleid, in dem man von den Menschen, besonders auch von der den Männern der Presse, am leichtesten bemerkt wird. So ist er denn auch für Geschäftsleute eine Tracht, die sie vorteilhaft kleidet und ihnen andere Reklame ersetzt. Und wo eines Menschen Vergangenheit Flecken aufweist und ihm gesellschaftliche Schwierigkeiten macht – er nimmt den Mantel der Liebe -, der deckt viele Sünden zu.

Auch Stolz und Herrschsucht pflegen dieses Gewand zu nutzen; verleiht es doch dem Menschen etwas Erhabenes, fast Göttliches. Der dunkle Dämon des Stolzes selber hat sich einmal in diesem lichten Gewand verborgen, damals als der Fürst dieser Welt all seine Habe dem armen Jesus schenken wollte. Und ein feiner Menschenkenner meint dazu: „Wenig Wohltäter, die nicht wie der Teufel sagen: wenn du nieder fällst und mich anbetest…“ Daß man uns ehre, uns dankbar sei und vor uns sich neige und krieche als vor den Rettern in der Not, ja wie vor höheren Wesen – auf keine Art erreicht man dies besser als im Engelskleid der Liebe.

Desgleichen haben manche den Mantel der Liebe auch als Sportkostüm tragen und schätzen gelernt. Da man nicht immer beim Tennis oder Reiten sein kann, so kleidet die Langeweile sich um und fährt zum Armenball – der Mantel der Liebe als Ballkleid! – oder zur Armensitzung oder – und das ist das schlimmste – zu den Armen oder Trauernden selber. Man hat Bewegung dabei und auch Abwechslung: dieser Armeleute-Geruch nach den Parfüms des heimischen Boudoirs, diese armseligen Hintertreppen nach der Fahrt im Lift zu Hause, diese hungernden Kinder nach dem beständigen Anblick gesättigter Gesichter. Und man hat wieder interessierenden Stoff für Gespräche und Komitee_Sitzungen, und außerdem das erfrischen Gefühl einer guten Tat.

So haben viele, viele den Mantel der Liebe – und darunter kein Herz der Liebe.

Allein, mag auch die übrige Welt sich täuschen lassen, die armen selber erspähen es wohl, wenn unter diesem Mantel etwas anderes steckt als Güte. Die armen haben merkwürdig scharfe Augen und ein feines Ohr dafür, ob echte Liebe oder verkleidete Selbstsucht zu ihnen kommt. Und wehe, wenn sie die Selbstsucht kommen hören. Durch die Gaben der Selbstsucht werden sie gedemütigt, aufgereizt, demoralisiert, zur Lüge, Schamlosigkeit, Begehrlichkeit verleitet. Sie nehmen die Gabe und hassen den Geber. Warum sind die Massen der Armut trotz so vieler Liebestätigkeit doch stets unzufrieden? Sind nicht gerade jene gegen die besitzenden Klassen am gehässigsten, die am meisten von diesen beschenkt werden? Warum leuchtet bei so manchem Wohltätigkeitsfest etwas ganz anderes aus den Augen der Armen als fröhliche Liebe und kindliche Dankbarkeit? Wie Gott, spricht auch der Mensch zum Menschen: Ich suche nicht dein Geschenk, sondern – dich! Die soziale Frage löst nicht der Mantel der Liebe, sondern nur Hand und Herz der Liebe!

Natürlich durchschaut auch Gott die Maske, und auch er gibt sich nicht zufrieden mit dem Mantel der Liebe, nicht mit bloßen Werken der Güte, sondern allein mit wirklicher Liebe und Güte. Er will nicht so sehr, daß wir ihm Helfer in seiner Arbeit und Sorge, als vielmehr, daß wir Teilnehmer an seiner tief innerlichen, freilich allzeit auch werktätigen Liebe seien. Denn so eindringlich er auch zum Almosengeben auffordert, so versäumt er doch nicht beizufügen: „Wer Almosen spendet, tue es in des Herzens Einfalt!“ (Röm. 12, 8), und als sein eigentliches Königsgebot der sozialen Pflicht hat er nicht die Formel ausgegeben: „Du sollst dem Nächsten geben!“ – sondern „Du sollst den Nächsten lieben!“

Einst aber wird der Tag kommen, wo Gott den Menschen, wie alle Masken, so auch den erborgten Mantel der Güte abnimmt, abreißt von den Schultern. Als das hochzeitliche Kleid der Ewigkeit wird nicht der Mantel der Liebe gelten dürfen, sondern nur die Liebe selber. Möchten wir dann nicht sagen müssen, wie einmal die ernste, strenge Droste-Hülshoff nach einer Gewissens-Erforschung ausrief:

„Wahrheit alle Schleier bricht.
Weh mir! Die Liebe – hab‘ ich nicht!“

Prüfen wir, ehe der prüfende Blick Gottes auf uns ruht, prüfen wir oft unsre Liebestätigkeit; auch Frau Caritas muss von Zeit zu Zeit Gewissens-Erforschung halten! Versagen wir uns mit unnachsichtlicher Strenge alles, was als Liebe gelten soll und doch nicht Liebe ist! Lieber weniger „Gutes“ tun und mehr Güte haben! Ziehen wir den bloßen „Mantel der Liebe“ aus und ziehen wir nach dem schönen Wort des Apostels ein „Herz voll Liebe“ an, ein Herz voll echter, wahrer Güte! Das wird dann das hochzeitliche Feierkleid sein, womit wir dem unter die Augen treten wollen, der da ist die ewige Liebe und – Wahrheit! –
aus: Bonifaz Wöhrmüller OSB, Das königliche Gebot, 1929, S. 39 – S. 42