Die falsche Idee der Gleichheit der Menschen

Die richtige Idee, welche dem Ruf nach Gleichheit der Menschen zu Grunde liegt und ihm eine so bezaubernde Kraft verleiht, ist die Gleichheit des Wesens und der Natur in allen Menschen, welche bewirkt, daß alle Menschen an und für sich betrachtet gleich achtungswürdig sind und ein gleiches Recht auf die wesentlichen und höchsten Güter der Menschheit besitzen, aber auch alle gleich demütig Gott über sich und ihre Mitmenschen neben sich zu achten haben. Der Liberalismus hat diese richtige Idee in enormem Maße gefälscht; er hat sie gefälscht, indem er die gleiche Achtungswürdigkeit aller Menschen nicht auf die Allen zukommende Würde des Ebenbildes Gottes gründete, welche doch allein den Menschen wahrhaft und unbedingt achtungswürdig machen kann; er hat sie gefälscht, indem er auf Grund der Gleichheit alle wahre Autorität leugnete, während diese doch gerade dazu am meisten notwendig ist, um im Namen Gottes die Rechte Aller zu schützen; er hat sie gefälscht, indem er die Menschen alle gleich machen will vor einem Gesetz, welches weder der Ausdruck des Gesetzes Gottes ist, noch das wahre Wohl der Gesamtheit und die besonderen Rechte der Einzelnen im Auge behält, und daher allerdings Gleichheit einführt, aber die Gleichheit der Rechtslosigkeit. So gelangt der Liberalismus zur Gleichheit der Sklaven, weil er damit begonnen, die Gleichheit des Seelenadels zu verleugnen, womit Gott alle Menschen ausgestattet hat. Noch mehr; während der Liberalismus alle von sittlichen und religiösen Gründen getragenen und geschützten Ungleichheiten unter den Menschen entfernt, hat er damit nur um so mehr die von nichts weniger als wahrer Liberalität, vielmehr vom reinsten Egoismus durchdrungene und durch die nominelle Gleichheit vor dem Gesetz nur schlecht verhüllte Ungleichheit gefördert, welche die Inhaber der Macht, des Reichtums, der Intelligenz von den weniger beglückten Menschen scheidet und die letzteren den ersteren gegenüber zu Heloten gemacht.

Das Christentum dagegen hatte schon 1900 Jahre vor der Verkündigung der Prinzipien von 1789 die Gleichheit der Menschen, als der Ebenbilder ihres Schöpfers und der Kinder des einen himmlischen Vaters, der heidnischen Welt gegenüber theoretisch und praktisch zur Geltung gebracht. Es hatte die Menschenrechte der Sklaven gegenüber dem Herrn, des Kindes gegenüber dem Vater, des Weibes gegenüber dem Mann, zur Wahrheit gemacht; es hatte die Mächtigen und Weisen dieser Welt gedemütigt, die Armen und Schwachen aber nicht nur gegen den Hochmut und rohe Gewalt geschützt, sondern mit Ehre und Liebe umgeben. Dem Egoismus des modernen Heidentums gegenüber hat es dieselbe Mission zu erfüllen, und eine seiner großartigsten und bedeutungsvollsten Taten in dieser Richtung ist die Definition unseres Dogmas. (Anm.: Das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes)

aus: Matthias J. Scheeben, Das ökumenische Concil vom Jahre 1869, Dritter Band, 1871, S. 432-433