Apokalypse – Die sieben Plagen

Das Ausgiessen der Schalen. Kap. 16, Vers 1-4. Das Gericht nimmt seinen Anfang

Die große Schalenvision hat auffallende Ähnlichkeit mit der Posaunen-Visionen (8, 7). Beide greifen zurück auf das alt-testamentliche Gegenstück der ägyptischen Plagen. Aber weder inhaltlich noch formal sind die Plagen der sieben Schalen eine bloße Wiederholung, nicht einmal die vier ersten, die mit den Plagen der vier ersten Posaunen größere Ähnlichkeit aufweisen als die drei letzten. Viel stärker als früher tritt jetzt die wachsende Schuld der verstockten Sünder hervor. Schlagartig, ohne lange Pausen folgen die Katastrophen aufeinander, fast wie ein Trommelfeuer, das den Fall Babylons einleitet, wie rollende Angriffswellen auf die Metropole des Satansreiches. Der gesamte Kosmos ist in den Angriff einbezogen. Das Gericht nimmt seinen Anfang, wenn auch noch eine Möglichkeit zur Bekehrung bleibt. Der Seher berichtet nur, wie die Bösen von diesen Plagen betroffen werden und wie sie darauf antworten; an die Guten richtet sich bloß eine Mahnung zur Wachsamkeit (Vers 15). Dem ganzen Kapitel könnten als Motto die Worte des Weisheitsbuches voran gestellt werden: „Es wird seinen Zorneseifer als Rüstung anlegen und die ganze Schöpfung bewaffnen zur Bestrafung seiner Feinde. Als Harnisch wird er die Gerechtigkeit anziehen und als Helm aufsetzen ein unabweisbares Gericht. Als unüberwindlichen Schild wird er seine Heiligkeit ergreifen und grimmen Zorn zum Schwert schärfen. Die ganze Welt zieht mit ihm aus zum Kampf gegen die Toren“ (Weish. 5, 17-20). Toren heißen die Gottesleugner und Gottesfeinde.

Feierlich ergeht aus dem unnahbar gewordenen Tempel an die sieben Engel der gemessene Befehl, die sieben Zornesschalen Gottes auf die Erde auszugießen. Nur Gott selbst oder eines der vier Wesen, das im Auftrag Gottes spräche, kommt als Befehlender in Frage. Wie in vielen andern Fällen, so ist auch in der Form dieses Befehls die Bibel sprachschöpferisch geworden: „Die Schale seines Zornes ausgießen“, ist als bildhafte Redewendung allgemein üblich.

Der Reihe nach gehorchen die Engel der göttlichen Weisung. Der erste schüttet den Inhalt seiner Schale auf das Festland der Erde aus. Die Wirkung gleicht der sechsten ägyptischen Plage (2. Mos. 9, 8ff), übertrifft sie aber weit an Schrecken. Es geht nicht mehr bloß um die Züchtigung eines verstockten Herrschers und seiner Untertanen wie dort; die ganze sündige Menschheit wird von dem Strafgericht getroffen. Also wird auch die erste Posaunen-Plage überboten, die nur ein Drittel der Erde erfaßte. Eine Seuche sucht die Menschen heim, indem sich ebenso bösartige wie schmerzhafte Geschwüre an all denen bilden, die das Zeichen des Tieres trugen und dessen Bild anbeteten. Weil nur sie davon befallen werden, ist keine natürliche Erklärung möglich. Darum steht aber auch die Heilkunst, mag sie noch so weit in der Seuchen-Bekämpfung fortgeschritten sein, der Plage hilflos gegenüber. Nun sind sie doppelt gezeichnet, die sich auf Stirn oder Hand oder als Übereifrige gar auf beiden das Erfolg verheißende Malzeichen des Tieres hatten anbringen lassen (13, 16f; 14, 9 u. 11; 19, 20; 20, 4). Es erfüllt sich, was der Herr den Übertretern seiner Gebote im Alten Testament angedroht hat: „Der Herr wird dich schlagen mit dem ägyptischen Geschwür, mit Beulen, Aussatz und Grind, wovon du nicht mehr geheilt werden kannst. – Und schlagen wird dich der Herr mit bösen Geschwüren an den Knien und Schenkeln, so daß nichts an dir heil bleibt von der Fußsohle bis zum Scheitel“ (5. Mos. 28, 27 u. 35). Bei den Philistern hatte eine ähnliche Plage Erfolg; sie gingen in sich und sandten die erbeutete Bundeslade zurück (1. Sam. 5, 9ff). Bei den Tieranbetern bleibt ebenso wie bei den Ägyptern die Bekehrung aus. Aber die Begeisterung für das Tier und seinen Lügenpropheten dürfte bei den Betroffenen etwas gedämpft worden sein.

Nach dem Festland werden durch die zweite und dritte Plage die Gewässer heim gesucht, und zwar zuerst das Meer, dann die Flüsse und Quellen. Die Beziehung zur zweiten und dritten Posaunen-Plage (8, 8-11) sowie zur ersten ägyptischen Plage ist unleugbar; aber die Beschränkung des Umfanges auf ein Drittel fällt fort, und die Wirkung ist schlimmer. Das Weltmeer mit frischem, rotem Blut gefüllt zu sehen, wäre schon ein entsetzlicher Anblick. Nun aber gleicht es einem einzigen großen Leichnam; denn das Meer wurde „zu Blut wie von einem Toten“. An dem Leichengift kommen alle Lebewesen im Meer um; keines bleibt verschont. Das Unheil, das die dritte Schale am Wasser der Flüsse und Quellen anrichtet, ist weniger groß. Sonst hätten auch alle Menschen an dem Genuss sterben müssen; sie bleiben aber am Leben, wie die folgenden Plagen zeigen. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI.2, 1942, S. 228 – S. 230
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