Moraltheologie
Der Einfluss der geistig-sittlichen Eigenart des Einzelnen
Auch das geistige Leben ist dem Prinzip der Individuation unterstellt. Sie wird bewirkt teils durch die „Materie“, oder durch das körperliche Substrat der Seele, teils durch den verschiedenen Freiheitsgebrauch der Menschen (S. th. 1, q. 85, a. 7; vgl. 1, q. 96, a. 3). Mit Rücksicht auf die Verschiedenheit der Leiblichkeit, der „Materie“, vereinigt Gott mit ihr eine angepaßte Seele; die Seelen sind gleich, was die allgemeine und unbegrenzte Aufnahmefähigkeit (intellectus possibilis) betrifft, aber verschieden, mit Rücksicht auf die verschiedene Beschaffenheit der Leiblichkeit, nach Geistesschärfe und Geistesenergie oder nach der Fähigkeit, die Eindrücke von außen zu geistigen Bildern und Begriffen zu verarbeiten (intellectus agens). Näherhin ist das Naturell, die geistig-sittliche Eigenart des einzelnen, zu erklären aus den Besonderheiten, die durch Alter, Geschlecht, Konstitution, Temperament, Talent, natürliche Charakteranlage gegeben sind und die zum Teil bis zu einem gewissen Grad durch Einwirkung des freien Willens gesteigert oder auch gemindert werden können.
Das Alter
Von Bedeutung für die geistig-ethische Haltung ist einmal das Alter, dies bleibt wahr, obgleich die Persönlichkeit an sich durch den Altersunterschied nicht berührt wird. Jede Altersstufe stellt den Willen vor besondere Aufgaben, Schwierigkeiten, Versuchungen (vgl. 1. Kor. 13, 11; Tit. 2, 1ff.; 1. Joh. 2, 12ff); anderseits hat jede Altersstufe auch wieder ihre besonderen Schutzmittel.
So ist es durchaus verfehlt, „als ethischen Kanon auszusprechen: Jugend hat nicht Tugend“. Den Neigungen des Kindes zu Egoismus, Eigensinn, Empfindlichkeit, Begehrlichkeit stehen gegenüber die Hingabe an die Autorität, die Empfänglichkeit für das Wahre, Gute, Religiöse, die Zartheit des Gewissens und des Schamgefühls. Der dem jugendlichen Alter sich nahe legenden ungestümen Versuchung, die Schranken der Freiheit nieder zu legen und das eigene Ich durchzusetzen, auch entgegen Sittengesetz und Tradition, der jugendlichen Leidenschaftlichkeit und Unbeständigkeit stehen als Schutzmittel gegenüber ein offener Sinn für das Edle und Ideale, Bereitheit zum Dienst im Interesse von Wahrheit und Gerechtigkeit, Geneigtheit zur Betätigung.
Auf der Höhe der Lebenskraft mit vorwiegender Aktivität beim Mann wirken der Neigung zur Selbstüberhebung, zur Herbheit, zu Empfindungslosigkeit und Isolierung mäßigend entgegen das Bewusstsein der Pflicht und das soziale Empfinden, die Hingabe an Beruf, Familie und Gemeinschaft. Gewissen Fehlern, wozu die Frau neigt, wirkt entgegen hauptsächlich die Hingabe an Familie und häuslichen Beruf, schlichtes religiöses Empfinden und schlichtes Pflichtbewusstsein.
Das zu Selbstsucht, Misstrauen, Geiz und mürrischem Wesen neigende Greisenalter hat, wenn anders es in steter Arbeit sich selbst abgeklärt ist, in seiner Mäßigung und Selbstbeherrschung, seiner Erfahrung und Weisheit ein starkes Schutz- und Gegenmittel (Job 12, 12; Spr. 16, 31; Sir. 25, 6ff; Weish. 4, 8ff).
Konstitution und Geschlechtsunterschied
Naturgemäß übt auch die körperliche Konstitution auf Seelenleben und geistig-sittliche Haltung einen Einfluss aus. Geistige und ethische Betätigung und Energie sind von Gesundheit und Krankheit, Vollkraft und Kränklichkeit, größerer oder geringerer Widerstandskraft nicht unabhängig, so mächtig unter Umständen der Einfluss sein mag, den der freie Wille auf diese Widerstände auszuüben befähigt ist.
Besonders aber ist der Geschlechtsunterschied sittlich von Bedeutung, wiewohl er sich auf den Geist nicht erstreckt. Der zarteren weiblichen Konstitution und Organisation entspricht eine gewisse geistige Eigenart: die Schwäche (vgl. 1. Petr. 3, 7) gegenüber gewissen Versuchungen ist größer, die Gefahr des sittlichen Falles ist demgemäß näher gerückt, die Folgen des sittlichen Falles sind schwerer zu heilen; doch ist anderseits dem Weib wieder eigen ein feineres Empfinden für das Reine und Sittsame sowie die Hinneigung zur Religiosität, nicht selten aber auch eine den Mann beschämende Geduld. Beim Mann tritt im allgemeinen jener Zartsinn oftmals mehr zurück, dagegen die Tatkraft stärker in den Vordergrund, auch macht sich auf dem Gebiet der reinen Verstandestätigkeit, wobei der Eigenart von Phantasie und Gefühl entscheidende Bedeutung zukommt, ein unverkennbarer Vorsprung des Mannes bemerkbar. Allein die so gegebenen Bestimmtheiten und Einflüsse heben die Willensfreiheit keineswegs auf. Denn einmal existiert, wie bereits ausgeführt wurde, eine gewisse Kompensation der ethischen Kräfte. Überdies ist der Geist, wie gleichfalls hervorgehoben wurde, geschlechtslos, damit hängt zusammen, dass für Mann und Frau dasselbe Vernunft- und Sittengesetz besteht und Geltung hat.
Deshalb betonen die Vertreter der christlichen Tradition im Altertum, entgegen heidnischer Auffassung und Sittenlosigkeit in späterer Zeit, dass auch dem Mann nicht erlaubt sei, was der Frau verboten und verwehrt ist, so Ehebruch und jegliche Art der Unzucht. (Augustinus, Sermo 9, 3f. 132, 2) Positiv aber ist festzustellen, dass jede Tugend und das christliche Ideal für beide erreichbar ist; dies trifft auch auf die Tugend der Keuschheit zu, ist doch die Sinnlichkeit der Leitung durch die Vernunft unterstellt und der Geschlechtstrieb nicht wie beim Tier physischer Notwendigkeit anheim gegeben. Wenngleich aber das Christentum nur eiN Sittengesetz und ein gemeinsames sittliches Ideal und Ziel anerkennt, denn in Christus ist „nicht Mann noch Weib“ (Gal. 3, 28), so will es gleichwohl die natürlich begründete Eigenart der Geschlechter nicht ignorieren oder zerstören, vielmehr die Tugend des Mannes der männlichen, die des Weibes der weiblichen Eigenart entsprechend entwickeln. –
aus: Otto Schilling, Lehrbuch der Moraltheologie I. Band, 1928, S. 58 – S. 60