Apokalypse – Die sieben Plagen
Vorbereitung der Plagen. Kap. 15, Vers 1-5. Der himmlische Chor der Überwinder
Wie vor den Posaunen-Visionen, die mit der Öffnung des siebten Siegels einsetzten, ein Blick in den Himmel die Guten auf Erden ermutigte, so schaltet sich auch hier vor der Übergabe der neuen Strafmittel an die sieben Engel ein erhebendes Vorspiel ein: der himmlische Chor der Überwinder (2-4). Er erinnert an 7, 9-17, hat auch im Rahmen des Ganzen einen ähnlichen Zweck. Schauplatz ist der Himmelssaal. Aber der kristallene Glanz des Bodens, einem gläsernen Meer gleich (4, 6), ist nun mit Feuer gemischt. Wie Wetterleuchten das nahende Gewitter, so kündet dieses Feuer das bevorstehende Gericht an. „Durch meinen Zorn ist ein Feuer entbrannt und lodert wider euch“ (Jer. 15, 14; vgl. 5. Mos. 32, 22). Zugleich ist es Symbol des gegenwärtigen Gottes, der sich im Feuer offenbarte (2. Mos. 3, 2; 13, 21; 19, 18).
Auf der weiten Meeresfläche des Thronsaales sieht Johannes im Schein des Feuers die Überwinder oder Sieger stehen, nicht „an dem Meer“, da dieses den ganzen Raum bedeckt. Weniger ausführlich als 7, 9ff wird nun eine himmlische Siegesfeier geschildert. Weiße Gewänder brauchen nicht eigens erwähnt zu werden, denn sie sind in dem Begriff „Sieger“ mit genannt. Statt der Palmen tragen die Sieger Harfen wie die vierundzwanzig Ältesten (5, 9). Instrumente von solcher Schönheit und Größe gibt es nicht auf Erden. Sie erklingen ausschließlich zum Preise des Allerhöchsten, darum heißen sie „Harfen Gottes“ (vgl. 1. Thess. 4, 16; 2. Sam. 23, 20; Ps. 36 [35], 7; 80 [79], 11). Einen dreifachen Sieg dürfen sie feiern. Einst schien es, der Antichrist habe die Heiligen alle überwunden (13, 7). Aber nur jene vermag er zu besiegen, die sich von ihm einschüchtern und zur Glaubens-Verleugnung verführen lassen, indem sie ihn oder sein Bild anbeten und durch Annahme seines Malzeichens sich ihm ganz zu eigen verschreiben. Die andern bleiben standhaft und werden zu Siegern, indem sie dem Lamm die Treue wahren. In der Wortform „die Siegenden“ oder „die Überwindenden“ kommt fein zum Ausdruck, daß der Kampf weiter geht, weil Satan erst endgültig überwunden wird, „wenn der Stärkere über ihn kommt, ihn besiegt und ihm seine Waffenrüstung abnimmt, auf die er sich verließ“ (Luk. 11, 22).
Zum Klang ihrer Gottesharfen stimmen nun die Sieger im Himmel einen Hymnus an. „Lied des Moses, des Knechtes Gottes, und Lied des Lammes“ ist sein Titel, der einzigartig den Anfang der Geschichte Israels mit der endzeitlichen Vollendung des neu-testamentlichen Gottesvolkes verknüpft. Moses ist der Retter Israels aus der ägyptischen Knechtschaft, das Lamm vollbrachte das noch größere Rettungswerk der Erlösung der Menschheit aus der Sklaverei der Sünde. Zum Dank für die Rettung stimmte Moses mit seinem Volk nach dem Durchzug durchs Rote Meer das herrliche Lied an, das als Typ der alt-testamentlichen Siegeslieder gelten kann (2. Mos. 15, 1-18). Das von den Siegern gesungene Lied des Lammes folgt entweder auf das Lied des Moses oder ist ihm nachgebildet. Es ist aufgebaut aus dem Gedankengut der vorchristlichen Offenbarung (2. Mos. 15, 6 u. 11 u. 18; 34, 10; 5. Mos. 32, 4; Ps. 111 [110], 2; 139 [138], 14; 145 [144], 17; Jer. 10, 6f u. ö.). So bezeugt dieses Lied ebenso wie das Magnifikat der Gottesmutter die hohe Wertschätzung der alt-testamentlichen Gesänge. Diese genügten aber nicht mehr; die Christen bereicherten ihren Liederschatz um Oden und Hymnen auf das Lamm Gottes, den verklärten Erlöser.
Die Sänger des Liedes können nicht verstehen, wie die Menschen auf Erden die Drohungen des Tieres mehr fürchten als den gerechten Gott und Versprechen des Lügenpropheten mehr Glauben schenken als den Verheißungen des Herrn. Wenn schon jede Auswirkung des göttlichen Zornes das Geschöpf mit heilsamer Furcht erfüllen muss, wie wird dann erst der vollendete Grimm des Allmächtigen zu ertragen sein? Will also einer den warnenden Herrn nicht fürchten und seinen Namen nicht preisen, so wird er vor dem strafenden Richter zittern müssen. Gottes Name ist der Ausdruck seines Wesens, sein Wesen aber ist Heiligkeit. Darum gibt es keinen neben ihm, dem solche Heiligkeit eigen wäre. Der Mensch dagegen wird in Sünde geboren, und schuldbefleckt empfing ihn seine Mutter (Ps. 51 [50], 7). Diese wesenhafte Heiligkeit ist der erste Grund zur Gottesfurcht, die im Himmel sich in liebender, dankbarer Ehrfurcht und ständigem Lobpreis äußert. Wie ein Echo der drei ersten Vaterunser-Bitten klingt es, wenn nach diesem Hinweis auf die Heiligkeit Gottes zwei weitere Gründe mit „denn“ eingeleitet werden: Gottes Reich wird kommen, und die nahenden Strafgerichte werden allen Völkern die Augen öffnen. Sie werden einsehen, wo die schuld und wo die Unschuld, wo wahre Größe und wo nur Großsprecherei ist (13, 5). Haben sie bisher das Tier und sein Bild angebetet, so werden sie nun dem Herrn des Himmels die schuldige Ehre erweisen. Niemand wird mehr leugnen können, daß in allem sich zuletzt doch der gerechte Wille Gottes erfüllt und daß die Pläne der Vorsehung von keiner Macht vereitelt werden können. Vor dem Erscheinen des Richters wird also in diesem Siegeslied eine neue Blütezeit für das Gottesreich voraus verkündet, eine Bekehrung der Völker zum wahren Glauben. Das setzt eine geraume Zeitdauer voraus, wenn auch der Begriff „alle Völker“ nicht absolut zu nehmen ist.
Die Vision der Himmelsliturgie hat die Herzen des Sehers und der Leser zuversichtlich gemacht. Nun mögen die letzten Plagen der sieben Engel beginnen. Sind sie einmal überstanden, dann werden alle Überwinder ebenso wie die eben geschauten im himmlischen Thronsaal das Lied des Moses und das Lied des Lammes mitsingen dürfen. Eine neue Vision bereitet die letzten Plagen vor (5-8). Auch sie kommen aus dem Himmel. Das soll niemand vergessen. Die Szenerie wechselt. Der glänzende Thronsaal wird zum „Tempel des Zeltes des Zeugnisses“, wie der Text wörtlich lautet. Das irdische Bundeszelt oder die Stiftshütte war nach dem Vorbild des himmlischen gestaltet worden (2. Mos. 25, 9 u. 40; Hebr. 8, 5). Es war für Israel die Stätte der Gegenwart Gottes, wo Jahwe seinem Bundesvolk immer wieder Beweise seines machtvollen Eingreifens gab und so sich selbst bezeugte. Seinem neuen Bundesvolk will er sich nun noch herrlicher offenbaren. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI.2, 1942, S. 223 – S. 226
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