Die Visionen der Anna Maria Taigi
Die Erscheinungen in der geheimnisvollen Sonne
Anna Maria erblickte im Lichte dieser Sonne wie in einem Kino die Gemetzel Spaniens, den Krieg Griechenlands, den Aufruhr und die Plünderung in Paris im Jahre 1830, den polnischen Krieg, die Ereignisse in Russland, die Katastrophe des französischen Heeres in Moskau, die portugiesischen Ereignisse, die Befreiung der Sklaven, die Einnahme von Algier durch die Franzosen, die Revolution in Brüssel und die geheimsten Machinationen der politischen Kabinette. Sie sah in dieser Sonne alles aufs genaueste: die Schlachtfelder, die Physiognomien der Kämpfer, die geringsten Einzelheiten betreffs der Gegenden, der Zeit, der Personen und die Folgen der Ereignisse. Großenteils sah sie die Ereignisse voraus, oder sie schaute sie in dem gleichen Augenblick, in dem sie sich abspielten.
Mittels dieser Sonne sah die Selige auch die Missstände, Leiden und Nöten der einzelnen Völker, ebenso die Heilmittel, durch die man solche Schäden beseitigen könnte, und die Strafen, welche die göttliche Gerechtigkeit für die Sünden der Völker anordnete.
Des weiteren erblickte sie darin die Lauigkeit im religiösen Leben beim Volk und bei der Geistlichkeit, die Ausschweifung und die Unbotmäßigkeit der Völker, die Unterdrückung der unteren Volksschichten, die Fehler und die Gewalttätigkeit der Herren, die Sittenlosigkeit der gemeinen Leute, alle moralischen und sozialen Unruhen usw.
Ein Willensakt und ein Blick in die geheimnisvolle Sonne genügten für sie, um die Beziehungen der Menschen untereinander, die Beziehungen der Nationen zu Gott und die Beziehungen der menschlichen Handlungen zu den göttlichen Anordnungen sicher zu erkennen.
Die Mächte der Finsternis waren damals wie heute eifrig damit beschäftigt, die Kirche Gottes zu vernichten. Sie sah in jenem Licht die geheimen Versammlungen der Sekten, der Freimaurer, der Minister, der geheimsten Kabinette der Regierungen, ferner den Ausgang der Angelegenheiten, die gewechselten Briefe und alle Handlungen der niedrigen menschlichen Politik. Sie erblickte ihre blutdürstigen Pläne, ihre Ruchlosigkeiten, die Verrätereien, die sie übten, – das Priesterblut, nach dem man dürstete, – die Anzahl und die Gesichtszüge dieser Personen, ihre Grade, ihre geheimsten Zeremonien, – und dies alles so genau und deutlich, wie wenn sich alles in ihrem Zimmer abspielte.
Ferner sah sie in lichten, klaren Visionen voraus: die Dauer der verschiedenen Pontifikate, die Thronfolge der Päpste, den Wechsel der Monarchien, sowie Erdbeben, Überschwemmungen, bevorstehende Schiffbrüche, ansteckende Krankheiten, den Tod Napoleons, sein Sterbebett, seine Gefühle, seine Leichenfeier, sein Grab, die Insel St. Helena etc.
Dazu kamen noch die Visionen über die Seelen, mochten sie noch im Körper wohnen oder davon schon getrennt sein. Wenn man sie bat, einem Kranken zu helfen, sah sie sofort in der mystischen Sonne sein Angesicht, den Zustand der Krankheit, die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Heilung und die notwendigen Heilmittel, des weitern die gründe, die Gott veranlaßten, die Krankheit über ihn zu verhängen, und die sittliche Beschaffenheit der Seele des Kranken.
Betete sie für einen Sünder, so sah sie darin den unglücklichen Zustand seiner Seele, die Zahl, die Art und die schlimmen Folgen seiner Sünden. Dann opferte sie sich in heroischer weise dem himmlischen Bräutigam für diesen Sünder auf, indem sie die Sündenschuld auf sich nahm und durch beständige Bußübungen die von Gott verlangte Genugtuung leistete.
Wenn sie für Verstorbene betete, so erblickte sie sofort in der mystischen Sonne ihren Aufenthaltsort. Wenn die Seele im Fegefeuer war, erschien sie im untersten Teil der Sonnenstrahlen in Gestalt eines befleckten Herzens oder eines trüben Edelsteines. Sie erkannte deutlich und klar die Peinen, die Gründe, warum die arme Seele in dieses Gefängnis kam, die Zeit und die Dauer ihrer Qualen.
Auf ähnliche Weise erkannte sie darin das Schicksal der Seligen im Himmel und der Verdammten in der Hölle, den Lohn für ihre Tugenden und die Strafe für ihre Sünden.
So erfuhr sie auch das Los des seligen Bischofs Strambi, den sie gleich nach seinem Tode im Himmel erblickte, und die Glorie des gerade verstorbenen Kapuzinerbruders Felix Da Montefiaskone, der unter den Seraphinen weilte.
aus: Wilhelm Kirchgessner, Das Leben der seligen Familienmutter Anna Maria Taigi, 1928, S. 91-93