Das Lamm und sein Gefolge

Apokalypse – Das Lamm schützt die Seinen

Das Lamm schützt die Seinen. Kap. 14, Vers 1-5. Das Lamm und sein Gefolge

Die drei Kapitel 11-13 bilden nicht bloß zahlenmäßig das Mittelstück der Apokalypse, in ihnen hat auch der gedankliche Aufbau einen Höhepunkt erreicht. Die Hintergründe der gesamten geschichtlichen Entwicklung sind in überraschenden Durchblicken erkennbar geworden, und der Ausgang des Weltendramas hebt sich wie einragender Gipfel in der Ferne aus der Wirrnis der Einzelszenen ab. Mit brutaler Macht treten der Satansdrache und seine beiden Kreaturen, das Tier aus dem Meer und das Tier vom Land, der Antichrist und der Lügenprophet, auf. Der Sieg dieser satanischen Trias scheint endgültig (13, 7 u. 14ff). Die Menschheit liegt vor dem Tier und seinem Bild auf den Knien und betet den scheinbar totalen Erfolg an (13, 8 u. 15). In Wirklichkeit aber ist Satan mit seinen Trabanten schon besiegt, ehe er in den Kampf eintritt. Nur Scheinerfolge hat er errungen. Das wird nun offenbar, indem die Heerschau Christi, des Lammes, zeigt, wo die wahre Macht steht, die den Endsieg erringt.

Wie 7, 1 leitet der Satz: „Und ich schaute, und siehe da“, eine neue Vision ein. Sie ist grundverschieden von den voraus gehenden und doch zuinnerst mit ihnen verbunden. Hat in den letzten Szenen eine tiefe Besorgnis und Trauer um das leidvolle Geschick der Kirche den Leser erfülltes bricht nun wieder das Trostmotiv freudig und Zuversicht weckend durch. Die Bedrohung der Gläubigen ist zwar ernst, aber es geht durch Kampf zum glorreichen sieg.Der zum Hauptschlag ausholende Herrscher der Finsternis wird das Reich des Lichtes gerüstet finden. Ignatius von Loyola hat in einer der wichtigsten Betrachtungen seiner „Geistlichen Übungen“ nach dem Vorbild des Apokalyptikers die „zwei Fahnen“ oder Heerlager in markanten Kontrastbildern gegenüber gestellt. So zwingt er zur Entscheidung für oder gegen Christus. Im Ringen der Einzelseele um ihr Lebensziel wiederholt sich ja im Kleinen, was der Seher vom Kampf des Drachen und vom Sieg des Lammes auf der Bühne der Menschheitsgeschichte schaute. Jeder der beiden Heerführer, Christus und der Antichrist, wirbt für seine Fahne. Die Art, wie sie es tun, bekundet auf der einen Seite liebende Hingabe zur Rettung, auf der andern haßerfüllte Machtgier zur Vernichtung. Auch der Erfolg der Werbung ist bezeichnend: der Antichrist gewinnt die Massen, weil er an die niederen Triebe appelliert, dem Lamm folgen nur Auserwählte. Vom Kampf wird später berichtet (17, 14; 19, 17ff; 20, 8ff); hier werden nur die Fronten gezeigt.

Aufgerichtet sieht Johannes das Lamm auf dem Berg Sion stehen, während seine Gegner, die zwei Tiere, aus der Tiefe kamen. Noch ist der heilige Berg von den Heiden umlagert (11, 1-2). Sah es aber vorher aus, als sei die im Heiligtum und um den Altar eingeschlossene Kirche verlassen und hilflos, so wird nun offenbar, daß sie in der starken Hut des Lammes geborgen ist. Christus herrscht als unbesiegter König auf dem heiligen Berg der Gottesnähe inmitten seiner Getreuen (Ps. 2, 6; 48 (47), 2 ff; 110 (109), 2f). „Rettung soll sein auf dem Berg Sion, in Jerusalem, wie Jahwe es verheißen hat. Und zu den Entronnenen zählt, wen Jahwe beruft“ (Joel 3, 5; vgl. Matth. 18, 20; 28, 20; Joh. 14, 18). Die jüdische Eschatologie und Messias-Erwartung trennte dieses Erscheinen Christi zum Endkampf meist nicht von seinem ersten Kommen. Bald ist es der Sion, auf dem Er sein friedliches Heer um sich sammelt (4 Esdr. 2, 42; 13, 35ff), bald die Zinne des Tempels, von der herab er die Befreiung Israels verkündet (Jalkut zu Is. 60, 1). Diese Erwartung hat der Teufel bei der Versuchung Jesu auf der Tempelzinne auszunutzen gesucht.

Die Szene 14, 1-5 spielt sich also nicht im Himmel, sondern auf Erden ab. Der irdische Sion ist als Gegenbild des Berges von Mageddon (16,16) die symbolische Stätte der streitenden Kirche, ähnlich wie 11, 1ff. Der Kampf Satans gegen die Kirche ist ein Kampf gegen Christus (Apg. 9, 4-5). Das Lamm ist hier nicht von den Seligen des Himmels umgeben. Für das Verständnis der Vision ist das wesentlich. Die Schar der Hundert vierundvierzig tausend ist nicht identisch mit der gleichen Zahl der Besiegelten aus den zwölf Stämmen Israels (7, 4ff), weil ein Hindernis auf diese den Artikel fordern würde. Sie bildet das Heer des Lammes in dem Kampf zwischen dem Drachen und der Nachkommenschaft der himmlischen Frau (12, 17). Kampffeld ist die Erde, nicht der Himmel (12, 12) Trotz aller Machenschaften Satans und seiner Gehilfen, des Antichristen und des Lügenpropheten, hat also Christus doch noch eine große Zahl Getreuer hienieden. Sie alle tragen als Zeichen ihrer gänzlichen Zugehörigkeit zu Gott und dem Lamm deren Namen auf ihren Stirnen. Der Name des Lammes ist zuerst genannt, weil Christus der Menschensohn ist, der Mittler des Heils und der Führer zum Vater. Niemand hat ihnen dieses Zeichen mit Gewalt und Drohung aufgenötigt wie beim Zeichen des Tieres. In freier Selbstentscheidung haben sie sich mutig auf die Seite des Lammes gestellt, während „die Erde und alle, die auf ihr wohnen“, das Tier anbeteten. Die Bestimmtheit der mystischen Zahl hundert vierundvierzig tausend gibt zu verstehen, daß Gott sie fest gelegt hat und daß es der Getreuen nicht nur wenige sind. Die Zahl ist darum nicht mathematisch genau zu nehmen. Zwölf, die Zahl der Fülle, ist mit sich selbst und dazu noch mit tausend vervielfältigt.

Wird das Gefolge des Lammes sich gegen die Übermacht auf Seiten des Drachen halten können? Die Ruhe im Heerlager auf dem Sion zeugt von innerer Entschlossenheit und hebt sich wohltuend ab von dem prahlerischen Geschrei im Lager der Tieranbeter (13, 4). Aber während die getreuen des Lammes selber schweigen, hört der Seher aus dem Himmel einen Chor, der die Kraft tosender Wasserfluten und rollender Donnerschläge mit der Anmut des Harfenspiels harmonisch in sich vereint. Mit Johannes vernehmen die Hundert vierundvierzig tausend auf dem Sion diesen Himmelschor. Und zwar sind nur sie imstande, den Inhalt des Liedes und die Melodie zu verstehen und zu lernen. Das ist Gnade. Die „Bewohner der Erde“, die Tieranbeter, haben keinen Sinn dafür. Kein Mensch vermag sich selbst das Ohr zu erschließen, daß es schon auf Erden den überirdischen Klängen und Harmonien lauscht, während die Sirenenklänge der Erde keine verführerische Macht mehr ausüben, wie Raffael es im Bild der heiligen Cäcilia dargestellt hat (vgl. 11. Kor. 2, 9). Die Erlösung durch Christus hat die Kämpfer dazu befähigt. Noch leben sie auf der Erde, gehören ihr aber nicht mehr an; denn „sie sind losgekauft von der Erde“ und dadurch ganz zum Eigentum Gottes geworden (vgl. 1. Kor. 7, 29-31). Zwar sind die Sänger nicht genannt, aber es sind Himmels-Bewohner, wohl die bereits zur Vollendung gelangten Gläubigen im verein mit den Chören der Engel. „Sie singen, als wäre es ein neues Lied“, heißt es in wichtigen Textzeugen, in anderen einfach: „Sie singen ein neues Lied“. Sein Inhalt hat sich eben erst erfüllt. Darum weckt es die Begeisterung eines neuen Liedes, mit dessen text und Melodie alle den Gefühlen ihres Herzens freudig Ausdruck geben können. Für die auf dem Sion um das Lamm Gescharten aber bedeutet dieses vom Himmel herab klingende Lied Hoffnung und Zuversicht; denn es ist, dem Zusammenhang entsprechend, wohl ein Kampf- und Siegeslied: die triumphierende Kirche, dargestellt in dem himmlischen Chor, ermutigt die streitende Kirche, vertreten in den Kampfgenossen des Lammes auf Sion.

Der lateinische Text hat Anlass zu der irrigen Auffassung gegeben, die um das Lamm gescharten Hundert vierundvierzig tausend sängen das neue Lied. Danach hieße es: „Und niemand konnte das Lied singen (dicere) als die Hundert vierundvierzig tausend.“ Der Urtext dagegen spricht vom Erlernen des Liedes, dessen Sänger die Harfenspieler und die „Stimme“, das heißt der Chor im Himmel, sind. Die Singenden sind also von denen, die das Lied hören und es dadurch erst lernen, zu unterscheiden. Wahrscheinlich hat ein alter Schreibfehler den heutigen lateinischen Text geschaffen, indem aus dem ursprünglichen discere (lernen) die Lesart dicere (singen) wurde. Der vor der Revision des lateinischen Textes durch Hieronymus liegende lateinische Text des Tychonius, wie ihn Beatus von Liébana überliefert hat, lautet nämlich genau dem griechischen Urtext entsprechend: „Und niemand konnte das Lied lernen (discere) als die Hundert vierundvierzig tausend.“ Das Achthaben auf diesen ältesten Textbefund ist wichtig wegen der Folgerungen, die aus dem späteren lateinischen Wortlaut besonders für die Lehre von der Aureole der Jungfrauen im Himmel gezogen worden sind. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI.2, 1942, S. 206 – S. 209
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