Apokalypse – Die sieben Posaunen

Die Posaunenvisionen. Kap. 9, Vers 1-2. Die fünfte Posaune. Das erste Wehe

Die Kühnheit der Bilder wächst, der schrecken der Plagen steigert sich. Die natürlichen Kräfte reichen nicht mehr aus. Dem zürnenden Gott stehen aber darüber hinaus furchtbare Strafmittel zu Gebote. Die neue Vision ist sorgfältig gegliedert und bezeugt schon in ihrem Aufbau, daß sie nicht das Produkt wilder Phantasie ist, mögen die Einzelheiten noch so sehr das Maß alles Wirklichen überschreiten. Nachdem wir Auskunft über die Herkunft der Plage erhalten haben (1-3), wird diese selbst geschildert (4-6), und zwar ihr Gegenstand (4), die Art der Pein (5) und die Wirkung (6). Dann wird das Aussehen der Plagegeister beschrieben (7-10) und ihr Anführer genannt (11).

Der Seher erblickt einen Stern. Der fällt nicht erst jetzt vom Himmel, sondern wie das Perfekt deutlich zu verstehen gibt, gehört sein Sturz der Vergangenheit an. Und da er handelnd auftritt, kann nur ein gefallenes Geistwesen damit gemeint sein, und zwar ein böser Engel, also Luzifer oder Satan. Gute Engel steigen vom Himmel, werden gesandt, böse fallen herab, werden gestürzt (vgl. 12, 4 u. 9). Auch dann noch müssen sie dem Schöpfer als Werkzeug im Vollzug seiner Absichten dienen. Wir werden also an Jesu Wort erinnert: „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (Luk. 10, 18; vgl. IS. 14, 12). Dabei ist es beachtenswert, daß der Herr sofort die Verheißung anschließt, die Seinen seien gegen alle bösen Mächte geschützt, wobei er bildhaft von schlangen und Skorpionen spricht, wie auch Johannes in dieser Vision Skorpione erwähnt und den Trägern des göttlichen Siegels das Verschontbleiben von der Heimsuchung verheißt (Vers 4).

Dem gefallenen Stern-Engel wird der „Schlüssel zum Brunnen des Abgrundes“ ausgehändigt. Gemeint ist der im Erdinnern gedachte Sitz der Dämonen und Verdammten, das kerkerähnliche Verlies Satans und seines Anhangs. Der Herr hat ja „die Engel, die ihre Herrscherwürde nicht wahrten, sondern die ihnen eigene Wohnstätte verließen, für den großen Gerichtstag mit ewigen Fesseln in dichter Finsternis aufbewahrt“ (Jud. 6; vgl. Offb. 14,11). Alles Lichtscheue, Gottwidrige hat dort seinen ewigen Aufenthalt, so schauerlich, daß die Dämonen von Gerasa den Herrn eigens darum bitten, er möge sie nicht in diesen Abgrund zurück schicken, sondern lieber in die Schweineherde fahren lassen (Luk. 8, 31f). Ein brunnenartiger Schacht führt nach altem Volksglauben in den Abgrund hinunter, fest verschlossen und nur mit Gottes Zulassung zu öffnen (20, 3 u. 7), wie im Orient bis zur Gegenwart die Brunnen vielerorts wegen der Wassernot unter Verschluss gehalten werden (Hohel. 4, 12). „Pforten der Hölle“ (Matth. 16, 18) besagt etwas ähnliches wie „Brunnen des Abgrundes“, wobei wahrscheinlich Christus auf eine Höhle am Fuß eines Felsens bei Cäsarea Philippi hinwies, die im Volksmund als Zugang zur Hölle galt und vom Herrn zur Bezeichnung der Macht des Teufels verwendet wurde. Im Namen wie „Höllental“, „Teufelsschlucht“ kommt eine verwandte Anschauung zum Ausdruck.

Sobald der Brunnen des Abgrundes geöffnet war, drang daraus dichter Qualm hervor wie aus einem gewaltigen Schmelzofen, so daß die Sonne und die ganze Atmosphäre in Finsternis gehüllt wurden: ein Symbol des göttlichen Zornes und des bevorstehenden Gerichtes (Matth. 27, 45).. Das Licht kommt aus der Höhe, von Gott, dem „Vater der Lichter“ (Jak. 1, 17). Er „ist Licht, und Finsternis gibt es in ihm überhaupt nicht“ (1. Joh. 1, 5). Die Finsternis dagegen kriecht aus dem Abgrund herauf, wo der Teufel über jene herrscht, die „in Finsternis und Todesschatten sitzen“ (Ps. 88, (87), 7; 107 (106), 10 u. 14). Dort unten ist der „Feuerpfuhl“ in der „Feuersee“ (Offb. 19, 20 u. ö.; vgl. Is. 24, 22). Wie tief diese Vorstellung im Volksbewusstsein wurzelt, verriet der unwillkürliche Ausruf eines Italieners, mit dem ich einmal am Krater des Vesuv stand. Dicke Rauchwolken quollen pustend aus dem Feuerschlund wie aus dem „Brunnen des Abgrunds“ und verhüllten die Sonne und das Tageslicht. „Ah, das ist die Hölle!“ sagte der Begleiter, von der Wucht des Schauspiels erschüttert. –
aus: Herders Bibelkommentar, Die Heilige Schrift für das Leben erklärt, Bd. XVI.2, 1942, S. 134 – S. 136
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